Nach der Entzauberung

Versperrt die Identitätspolitik auf der Linken und der Rechten die Perspektive auf das Allgemeine?

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PICTURE ALLIANCE/PHOTOSHOT
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Nach der Entzauberung

Versperrt die Identitätspolitik auf der Linken und der Rechten die Perspektive auf das Allgemeine?

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche eingewandert, wird identity politics als „Identitätspolitik“ zu einem neuen Kampffeld um Begriffe, Deutungen und Strategien. Dabei geht es nicht allein um den richtigen Sprachgebrauch, vielmehr laden sich politische Auseinandersetzungen zu einer kulturell determinierten Gegnerschaft von Gruppen auf, deren Unversöhnlichkeit den Diskurs belastet und gesellschaftliche Konfliktlagen polarisiert. „Identitätspolitik“ ist zum Reflex einer politisch-kulturellen Landschaft separierter Milieus geworden, die wechselseitig um Anerkennung und Einfluss ringen und ihre jeweilige Identität gegen die Identitätsansprüche Anderer zu behaupten suchen.

Identitätspolitik ist neu, aber nicht so neu, wie vielfach angenommen wird. In den USA ist seit Jahrzehnten ein Kulturkampf um die Deutung der nationalen Geschichte zu beobachten, in deren Mittelpunkt das eigene und das zugeschriebene Verständnis von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen steht. Gegen das lange dominierende Narrativ einer durch angelsächsische und protestantische Einflüsse geprägten, überwiegend durch weiße Männer repräsentierten Politik und Kultur haben sich zuerst die Afroamerikaner, sodann aber auch, ab den 1960er-Jahren, Frauen und Homosexuelle zur Wehr gesetzt. Dabei ging es einerseits um die rechtliche Gleichstellung, andererseits aber auch um die Anerkennung der jeweiligen Geschichten von Unterdrückung und Diskriminierung im öffentlichen Raum. Besonders die Partei der Demokraten nahm sich dieser Gruppierungen auch programmatisch im Zeichen der Anerkennung und Förderung von Diversität an.

Vielfach ist diese US-amerikanische Entwicklung als Ausbildung eines linksidentitären Liberalismus beschrieben worden, der einen Paradigmenwechsel von auf die gesamte Gesellschaft bezogenem Emanzipationsanspruch hin zur Förderung spezifischer Individual- und Gruppenrechte vollzogen habe. Entscheidend dabei ist, dass der amerikanische liberalism, historisch mit den sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen von Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnsons Great Society verbunden, politische Forderungen von ökonomischen Verteilungsfragen auf symbolische Anerkennungsmechanismen von Zugehörigkeit umstellte. Ungleichheit wurde vornehmlich als solche der Unterdrückung und Diskriminierung von Individuen und Gruppen begriffen, die fortan selber ermächtigt werden sollten, ihre eigenen Erfahrungen als Opfer zu erzählen und Anerkennung der Anderen einfordern zu können.

US-amerikanische Neokonservative in der Reagan-Ära hingegen begriffen den Kampf um die Anerkennung von Minderheiten und ihrer Ansprüche auf öffentliche Repräsentanz als Kulturkrieg. „Multikulturalismus“ wurde nicht als empirische Beschreibung einer ethnisch und kulturell vielfältigen Gesellschaft verstanden, sondern als Angriff auf die traditionellen, in religiösen, familiären und suburbanen Milieus verwurzelten „Werte Amerikas“ – ein politischer Schachzug, der die Mobilisierung solcher Bevölkerungsschichten ermöglichte, die sich unter der Vorherrschaft liberal-identitärer Artikulationseliten zurückgesetzt, ausgegrenzt und folglich nicht mehr repräsentiert sahen. Ein Übriges tat die Entwertung der traditionellen Arbeiterschaft durch Prozesse der Deindustrialisierung, die nicht nur den Verlust des Arbeitsplatzes sondern auch einer „uramerikanischen“ Lebensweise bedeutete. Donald Trumps Erfolg war es, genau dies erkannt und politisch mit seiner Parole von „Make America great again“ mobilisierbar gemacht zu haben.

Seitdem wird in den USA, aber nicht nur dort, darüber gestritten, ob die rechtspopulistische Revolte nicht als Gegenbewegung zum linksidentitären Liberalismus verstanden werden muss. Zumindest versuchen die sich identitär gebenden, verstehenden oder nennenden Strömungen, von den Le Pens über Pegida bis zur, nunmehr vom Verfassungsschutz beobachteten „Identitären Bewegung“ den Eindruck zu erwecken, dass sie den Kulturkampf angenommen und das Abendland und seine Werte gegen Islamisierung, Zuwanderung und Multikulturalisierung zu verteidigen angetreten sind.

Wollte man die identitätspolitische Konfliktlinie der Gegenwart äußerst pointiert beschreiben, so ließe sie sich mit David Goodhart als Konfrontation zweier sehr unterschiedlicher Milieus skizzieren. Auf der einen Seite die „Anywheres“: eine kosmopolitische, meinungsstarke, akademisch gebildete Klasse, einen selbstbestimmten und permissiven, urbanen Lebensstil führend. Auf der anderen Seite die „Somewheres“, eine regional stark verwurzelte, auf ihren traditionellen Herkünften und Werten bestehende Klasse. Beide Milieus verteidigen ihre Lebensweise. Dabei markieren nicht so sehr, wenngleich vielfach auch, die sozioökomischen Unterschiede die entscheidende Trennlinie. So kann ein „Soloselbständiger“ in der IT-Branche in prekärer Arbeitssituation leben, anders etwa als der ein Familienunternehmen führende Metzger, Handwerker oder Ingenieur. Was sie jedoch in kultureller Hinsicht trennt, sind Lebensweise und Lebensvorstellungen. Sie nehmen die Welt unterschiedlich wahr und kommunizieren in mehr oder minder geschlossenen sozialen Netzwerken.

Liberalisierung und Individualisierung haben ihren Preis. Wenn jede Person oder jede Gruppe ein Anrecht auf Anerkennung ihrer eigenen Sichtweise hat, sind Vermittlungsprozesse, auf die Politik angewiesen ist, kaum noch möglich. Nach der Entzauberung der großen, aus der Epoche von Aufklärung und demokratischer Revolution stammenden Erzählungen von Fortschritt, Vernunft und Gerechtigkeit macht sich ein gruppenbezogener Identitätsdiskurs breit, der in seiner Selbstbezüglichkeit Gesellschaften spaltet, es aber an einer Perspektive auf das Allgemeine fehlen lässt. Insofern stehen Demokratien vor erheblichen Herausforderungen, wollen und müssen sie doch gegenwärtig den Versuchungen autoritärer und autokratischer Mächte widerstehen.

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