Der Begriff „Identitätspolitik“ stammt ursprünglich aus den USA und hat inzwischen auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Dabei geht es nicht nur um Sprache, sondern um tieferliegende gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Gruppen vertreten ihre Sichtweisen und kämpfen um Anerkennung – oft gegeneinander. Das sorgt für Spannungen, erschwert Dialoge und fördert die Bildung abgeschotteter Milieus.
Ein langer Kulturkampf aus den USA
Die Wurzeln der Identitätspolitik reichen bis in die US-amerikanische Geschichte zurück. Schon lange geht es dort um die Frage, wer das Bild der Nation prägt. Lange dominierten weiße, protestantische Männer die öffentliche Erzählung. Doch ab den 1960er-Jahren forderten marginalisierte Gruppen – zuerst Afroamerikaner, später Frauen und queere Menschen – ihr Recht auf Gleichstellung und Sichtbarkeit ein. Die Demokratische Partei griff viele dieser Anliegen auf und setzte sich programmatisch für Vielfalt ein.
Von sozialen zu symbolischen Kämpfen
In der Folge verschob sich das politische Verständnis von Gleichheit: Weg von rein wirtschaftlicher Verteilung hin zur symbolischen Anerkennung von Identität. Das bedeutete: Gruppen wollten ihre eigenen Geschichten erzählen, ihre Erfahrungen mit Diskriminierung sichtbar machen und für ihre Lebensrealität Respekt einfordern. Der klassische Sozialstaat rückte dabei in den Hintergrund – entscheidend wurde das Gefühl, gesehen und gehört zu werden.
Die konservative Gegenbewegung
Diese Entwicklung rief bald eine konservative Reaktion hervor. Besonders unter Präsident Ronald Reagan bildete sich ein neues Lager, das die Anerkennungspolitik als Angriff auf traditionelle Werte deutete. Begriffe wie „Multikulturalismus“ galten plötzlich als Bedrohung. Viele Menschen, die sich kulturell und wirtschaftlich abgehängt fühlten, suchten Halt im Bekannten – in Familie, Religion und Heimat. Donald Trump nutzte diese Stimmung gezielt und gewann mit dem Slogan „Make America great again“ Millionen Unterstützer.
Identitäre Konflikte auch in Europa
Auch in Europa spalten identitätspolitische Fragen zunehmend die Gesellschaft. Rechte Bewegungen wie die Identitäre Bewegung oder Akteure wie Marine Le Pen greifen ähnliche Argumente auf wie ihre amerikanischen Vorbilder. Sie stellen sich als Verteidiger einer bedrohten Kultur dar – gegen Migration, Islamisierung und angebliche Gleichmacherei. Der Kampf um kulturelle Deutungshoheit ist längst auch hier angekommen.
Zwei Lebenswelten im Dauerstreit
Der britische Autor David Goodhart bringt die gesellschaftliche Spaltung auf den Punkt: Er unterscheidet zwischen den „Anywheres“ und den „Somewheres“. Erstere sind kosmopolitisch, akademisch gebildet, weltoffen und urban. Letztere fühlen sich ihrer Region, ihren Werten und Traditionen stark verbunden. Es geht also weniger um Einkommen oder Bildungsgrad als um unterschiedliche Sichtweisen aufs Leben. Beide Gruppen leben oft in eigenen Blasen, mit wenig Kontakt und noch weniger Verständnis füreinander.
Wenn Vielfalt zur Herausforderung wird
Die Forderung nach Anerkennung ist verständlich – aber sie bringt auch Herausforderungen mit sich. Wenn jede Gruppe nur noch für sich selbst spricht und gehört werden will, wird es für die Politik schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Der einstige Glaube an universelle Werte wie Vernunft, Gerechtigkeit oder Fortschritt verliert an Kraft. An seine Stelle tritt eine Vielzahl von partikularen Erzählungen, die sich nicht immer miteinander verbinden lassen.
Die Aufgabe der Demokratie
Unsere demokratischen Gesellschaften stehen damit vor einer echten Bewährungsprobe. Es geht darum, unterschiedliche Perspektiven ernst zu nehmen – ohne den Blick für das Gemeinsame zu verlieren. Nur so lässt sich verhindern, dass die Gesellschaft weiter auseinanderdriftet und autoritäre Kräfte an Boden gewinnen. Die Demokratie braucht also neue Wege, um Vielfalt zu integrieren, statt an ihr zu zerbrechen.