Auf eine rot-grün-gelbe Regierung warten die größten politischen Herausforderungen seit Jahrzehnten
Auf eine rot-grün-gelbe Regierung warten die größten politischen Herausforderungen seit Jahrzehnten
Der Plan ist ehrgeizig: Anfang Dezember, in der Nikolaus-Woche, soll die neue Bundesregierung stehen und Olaf Scholz zum Ampel-Kanzler gewählt werden. Nur noch vier Wochen mithin zur Bildung einer Ampelkoalition, einer Regierung, die in den kommenden Jahren die größten politischen Herausforderungen seit dem Mauerfall am 9. November 1989 national und international bewältigen muss.
ROT-GRÜN-GELB – diese Ampel-Koalition ist Neuland – für die Regierenden und für die Regierten gleichermaßen. Diese Neuland-Koalition trifft auf ein gespaltenes, in Teilen radikalisiertes Land, ein Land, das wirtschaftlich international noch durchaus Gewicht hat, außenpolitisch eher nicht mehr.
Die Neuland-Koalition trifft auf ein gespaltenes Europa, von Ost nach West, von Nord nach Süd. Europas Stimme klingt international immer verwirrender, ihr Einfluss schwindet von Jahr zu Jahr. Europa droht allein zu stehen, zerstritten – wie man am Umgang mit den Belarus-Flüchtlingen exemplarisch sehen kann – und zerrieben von den Auseinandersetzungen der Big Player China, USA und Russland. Noch sind diese Auseinandersetzungen mehr oder weniger überschaubar, die zunehmenden Cyberangriffe noch beherrschbar, aber sie haben das Potential, eines Tages zu militärisch-kriegerischen Auseinandersetzungen zu führen. Die Welt ist nicht mehr so, wie wir Deutschen es uns nach dem Fall der Mauer gerne eingeredet, vielleicht auch naiv vorgestellt haben.
Der Klimawandel wird – wenn er nicht aufgehalten werden kann – zu großen Flüchtlingsströmen führen, deren Ausmaß wir uns noch gar nicht vorstellen können oder wollen. Schon heute gibt es nach Angaben des Roten Kreuzes weltweit 30 Millionen Klimaflüchtlinge, Tendenz steigend. Es ist zumindest ein kleiner Fortschritt, dass sich die G-20-Staaten bei ihrem Treffen in Rom endlich auf das 1,5-Grad-Klimaziel geeinigt haben. Die gerade andauernde Weltklimakonferenz in Glasgow wird vielleicht die letzte Chance sein, die Welt auf dieses Ziel festzulegen. Die Hoffnung darauf ist allerdings eher gering.
Wenn diese Chance zur Klimarettung nicht genutzt wird, weil Russland und China sich weiter verweigern und Deutschland und die EU es nicht schaffen sollten, die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Irak, Afghanistan, die aktuell vor allem über Belarus zu uns kommen, gerecht auf dem Kontinent zu verteilen, dann ahnt man die Katastrophe, die auf Europa zukommt, wenn dieses Europa dann weiter auseinanderfallen sollte. Vom Ever Closer Europe sind wir schon jetzt weiter entfernt als je zuvor. Das ist die größte Gefahr für diesen Kontinent. Es ist die bittere Wahrheit.
Es liegt an der neuen Bundesregierung, dort Ansätze für eine neue Europa-Politik zu erarbeiten, sie mit den europäischen Partnern und den USA zu besprechen und abzustimmen. Bislang wurde die deutsche Europapolitik zwischen Auswärtigem Amt, dem Wirtschaftsministerium und dem Kanzleramt in oft komplizierten Verfahren abgestimmt – das aber kann nicht der Weg in die Zukunft sein. Europa ist zu wichtig, es hätte ein eigenes Europaministerium verdient.
Eine ehrliche Bilanz sollte die neue Bundesregierung in Sicherheits-und Verteidigungsfragen ziehen. Das gilt ganz besonders für unsere Mitgliedschaft in der Nato und für die Bedeutung der Bundeswehr in deren Rahmen. Da hat Deutschland Nachholbedarf. Ihn zu beseitigen könnte eine der größten Belastungsproben der Ampelkoalition werden.
Eine atomwaffenfreie Welt wird es nicht geben, also wird dieses Land nicht an der atomaren Teilhabe vorbeikommen, also an der Lagerung von US-Atomsprengköpfen in Deutschland und dem Einsatz von Bundeswehr-Flugzeugen, die diese Atomsprengköpfe im Ernstfall in Zielgebiete fliegen müssten. Einer Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen wird sich die neue Bundesregierung ebenfalls auf Dauer nicht verweigern können, will sie international glaubwürdig bleiben, ernst genommen werden und die eigenen Soldaten schützen. Realismus ist jetzt gefragt und keine Träumerei.
Dort liegt nun eine besondere Verantwortung auf der möglichen Ampel-Regierung und auf dem neuen Deutschen Bundestag. Gerade die vielen neuen und jungen Abgeordneten stehen sofort vor existenziellen Entscheidungen für die Zukunft dieses Landes und Europas.
Das gilt besonders für die erwähnte Klimapolitik. Sie muss innenpolitisch sozial verträglich und außenpolitisch in Kooperation mit Ländern, die einen anderen Weg zur Erreichung der Klimaziele beschreiten, in enger Abstimmung erfolgen.
Es sollte in diesem Land deshalb auch kein Tabu mehr gegenüber der neuen Generation von Atomkraftwerken geben. Es sind auch deutsche Ingenieure, die dort Standards gesetzt haben. Das gilt auch für die Wasserstofftechnologie.
Klimawandel, Digitalisierung und Erneuerung der Infrastruktur und natürlich die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, der Erhalt des in der Welt als vorbildlich angesehenen deutschen Gesundheitssystems – das alles verlangt zwingend, eine ehrliche Finanzpolitik zu betreiben. Sie wird auf Dauer ohne Steuererhöhungen für Vermögende nicht mehr auskommen, will man an der Schuldenbremse festhalten und Milliarden in die Klimapolitik und die Erneuerung der Infrastruktur stecken. Das, was die angehenden Koalitionäre dort bislang an Ideen verlauten lassen, klingt nicht überzeugend. International wird auf die deutsche Finanzpolitik mit besonderem Augenmerk geschaut.
Die heikelste, fast wichtigste Reform, die die Neuland-Koalitionäre angehen müssen, ist die Rentenreform. Der demographische Faktor spricht seit Jahren schon gegen die bisherige Rentenfinanzierung. Um das Niveau der Rentenzahlungen zu halten, mag eine Art staatlicher Rentenfonds neben privater Vorsorge mit Aktien eine interessante Möglichkeit sein. Am Ende jedoch werden die politisch Verantwortlichen an einer Erhöhung des Renteneintrittsalters – mit Ausnahmen natürlich – auf 67 wohl nicht mehr vorbeikommen. Der flexible Rentenbeginn wird die Zukunft sein müssen. Die Neuland-Regierung benötigt viel Mut.