Nine Twelve

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Nine Twelve

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht weiß, wo er am 11. September 2001 gewesen ist, als die Flugzeuge die Twin Towers zum Einsturz brachten. Genauso wenig wird es jemanden geben, der nicht behaupten würde, noch am gleichen Tag von dem Gefühl überwältigt worden zu sein, dieses Ereignis würde die Welt verändern.

Genauso ist es gekommen. Der Tag hat die Welt verändert – allerdings anders, als die ersten Wochen nach dem Angriff auf die USA vermuten ließen. Zwar rief die Nato umgehend den Bündnisfall aus, doch sah es im September noch danach aus, Amerika könnte eine überlegte internationale Allianz gegen den Terror schmieden und nicht schon bald gegen ganze Länder in den Krieg ziehen. Hatte George W. Bush nicht umgehend alle Muslime in den USA in Schutz genommen und eine Moschee besucht? Hatte er nicht noch am 20. September in seiner außerordentlichen Regierungserklärung den Unterschied zwischen dem afghanischen Volk und seiner Regierung betont? Hatte er nicht deutlich differenziert zwischen dem Islam und dem Terror im Namen Allahs? Und hatte das nicht alles die – ex post völlig unrealistische – Hoffnung genährt, die Vereinigten Staaten würde bedacht handeln und versuchen, der Drahtzieher des Attentats gezielt habhaft zu werden? Allein, es sollte anders kommen.

Und trotzdem: Wie würde die Welt heute aussehen, wenn die USA am 7. Oktober 2001 nicht begonnen hätten, Taliban-Stellungen und Infrastruktur in Afghanistan zu bombardieren, um schon bald Bodentruppen in das Land zu entsenden und sich in einen 20-jährigen Krieg zu verstricken? Wenn sie ein Jahr später, im September 2002 nicht im Irak eingefallen wären und dies pauschal mit dem „Kampf gegen den Terror“ begründet hätten?

Wie wäre es heute um den Nahen Osten bestellt, wenn Washington genau diesen Vorwand nicht gleich auch für den Versuch genutzt hätte, seinen Einfluss im Mittleren Osten und in Zentralasien auszudehnen, um damit seine internationale Führungsrolle zu festigen? Welche schwere Beschädigung des Rechtsstaats hätte Amerika vermieden, wenn es Guantanamo erst gar nicht eröffnet und auf die Einrichtung anderer Black Sites verzichtet hätte?

Und noch eine letzte Frage: Lohnt es heute noch, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie es hätte sein können? Unbedingt. Nichts anderes als die Vorstellungen der Menschen darüber, wie sie leben wollen, bestimmen die Welt von morgen. Das gilt auch für die Politik. Wer die Vorstellungen, wie anders die Reaktionen auf einen solchen Angriff hätten ausfallen können und welche Chancen darin gelegen hätten, mit der historischen Attacke anders umzugehen, als obsolet verwirft, wird niemals in der Lage sein, aus der Geschichte zu lernen.

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