Kolumne | Aus dem Bannaskreis
Kolumne | Aus dem Bannaskreis
Zeitenwende? Als dieser Tage das Bundeskabinett in Abwesenheit des urlaubenden Olaf Scholz unter Leitung des „Vizekanzlers“ Robert Habeck tagte, war Sonderliches zu sehen. Habeck erschien ohne Krawatte und Finanzminister Christian Lindner auch. Wolfgang Schmidt aber, als Chef des Kanzleramts sozusagen dessen Hausherr, hatte sich den Schlips umgebunden. Ein Zeichen dafür, dass eine Kabinettssitzung doch eine ernste Angelegenheit sei? Gehören Anzug plus Krawatte nicht zur Arbeitskleidung des Politikers wie der Blaumann zum Monteur? Das Brauchtum wankt. Kürzlich wurde die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer mit dem Walther-Rathenau-Preis geehrt, in den Berliner Räumlichkeiten der Deutschen Bank. Die Laudatio hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Was auffiel: Krawattentragen war bei vielen Gästen keine Selbstverständlichkeit.
Wer wissen will, wie es früher war, sollte nach Cadenabbia fahren, wo einst Konrad Adenauer seine Urlaubswochen verbrachte. Ein Denkmal gibt es dort: der Altkanzler in Bronze gegossen beim Boccia-Spiel, im Anzug, mit Krawatte. Fotos von Adenauer in der Sonne, den Blick auf die Alpen: So ganz anders als heutzutage Olaf Scholz im Allgäu – der Binder schmückte den alten Herrn. Ob eine sommerliche Kabinettssitzung unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger Ende der 1960er-Jahre im Garten des Bonner Kanzleramts, ob Helmut Schmidts Besuch beim Fußballweltmeisterschaftsendspiel 1974 in München – dunkle Anzüge, Krawatten. Das Ende freilich nahte. Als Gerhard Schröder 1980 als Neuling in den Bundestag gekommen war, ermahnte ihn Annemarie Renger, Parteifreundin und Bundestagsvizepräsidentin, er möge sich bei seinen Reden im Parlament doch bitte einen Schlips umbinden. Doch es war die Zeit der (damals modischen) Rollkragenpullover gekommen. Mit dem Einzug der Grünen wenig später gab es dann auch Strickjacken zu sehen. Nur Otto Schily machte die Ausnahme. Als Zeichen politischer Distanz zum grünen Umfeld wurde die Krawatte zu seinem Markenzeichen. Es half nichts. Joschka Fischer 1985 bei seiner Vereidigung als hessischer Umweltminister: ohne Schlips – und mit Turnschuhen. Im Bundestag war 2014 endgültig Schluss. Claudia Roth damals: „Mit der Abschaffung des Krawattenzwangs haben wir die Fenster im Bundestag ein gutes Stück weiter aufgestoßen und viel Muff entweichen lassen.“ Selbst bei ihrer Vereidigung erscheinen manche Bundesminister „ohne“ – Karl Lauterbach zum Beispiel, dessen Kennzeichen früher eine Fliege war. Kehrtwende dagegen in der französischen Nationalversammlung, wo der Krawattenzwang 2017 abgeschafft wurde? Der Abgeordnete Éric Ciotti verlangte in einem Brief an die Parlamentspräsidentin die Wiedereinführung der alten Zustände.
Jüngst in Elmau beim G7-Gipfeltreffen zeigten sich die Staats- und Regierungschefs mal so und mal so. Beim Endspiel der Frauen-Europameisterschaft im Wembley-Stadion erschienen die Vertreter des Königshauses mit, der deutsche Kanzler ohne Krawatte – den Zwiespalt dokumentierend, ob es sich um einen Staatsakt oder eine Freizeitveranstaltung handele. DFB-Präsident Bernd Neuendorf, Sozialdemokrat, trug übrigens einen Schlips.