Oh Amerika – Du hast so viel getan**

Schiefer Evergreen: die USA sind schuld

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PICTURE ALLIANCE/ABACA | TNS/ABACA
Malcom Kerr, Präsident der American University in Beirut und einer der entschiedensten Verfechter einer amerikanischen Friedenspolitik im Nahen Osten, wurde 1984 von libanesischen Terroristen ermordet. Sein Sohn Steve, Coach der Golden State Warriors, setzt sich immer wieder öffentlich für effektivere Waffengesetze, die Black Lives Matter-Bewegung und gegen white supremacy ein. Den traditionellen Besuch im Weißen Haus nach dem Gewinn der NBA-Meisterschaft 2018 lehnten Kerr und sein Team ab. Vorige Woche sind die Warriors erneut in die Endspielserie eingezogen.
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Malcom Kerr, Präsident der American University in Beirut und einer der entschiedensten Verfechter einer amerikanischen Friedenspolitik im Nahen Osten, wurde 1984 von libanesischen Terroristen ermordet. Sein Sohn Steve, Coach der Golden State Warriors, setzt sich immer wieder öffentlich für effektivere Waffengesetze, die Black Lives Matter-Bewegung und gegen white supremacy ein. Den traditionellen Besuch im Weißen Haus nach dem Gewinn der NBA-Meisterschaft 2018 lehnten Kerr und sein Team ab. Vorige Woche sind die Warriors erneut in die Endspielserie eingezogen.

Oh Amerika – Du hast so viel getan**

Schiefer Evergreen: die USA sind schuld

„Die spinnen, die Amis“, titelt der Spiegel. Die x-ten Schießereien in Buffalo und Uvalde, Texas, und ihre Nachwehen hätten angeblich wieder gezeigt, wie sie ticken – erst Gewalt, dann Kitsch. Dabei hat es niemand besser ausgedrückt als ein Amerikaner, der Coach des NBA-Finalisten Golden State Warriors, Steve Kerr, dass er die Nase voll hat von diesem irren Zyklus aus unfassbarer Brutalität und unechter Trauer. Es fällt schwer, nach einem derartigen Vorfall, der ja beileibe kein Einzelfall ist, Amerika zu verteidigen – aber man muss es auch nicht. Die Umstände der Tat sind jeweils einzigartig, während die Struktur, die aus einem überholten und missdeuteten Verfassungszusatz hergeleitet und durch populäre Mythen unterfüttert wird, eine schwere Deformation der US-Gesellschaft erkennen lässt. Aber das sind eben nicht „die Amis“, deren vernünftig denkende und emotional intakte Mehrheit Shootings und andere Gewaltorgien verabscheut und eine restriktive Regulierung des Zugangs zu (schweren) Waffen befürwortet.

Auf die Anklagebank gehören, wie ein zweiter Wutausbruch des texanischen Demokraten Beto O’Rourke anlässlich der heuchlerischen Pressekonferenz des Gouverneurs von Texas zeigte, Greg Abbott samt seiner Wählerschaft, deren laxe Haltung zu den Waffengesetzen den Tod von 21 Menschen mitverantwortet. Und Dutzende von Toten und Schwerverletzten, die womöglich noch kommen werden, solange sich rechtsradikale Republikaner in Washington und den Bundesstaaten weiter als Bauchredner der National Rifle Association betätigen und die Lüge am Leben halten, solche Amokläufe wären nur mit mehr Waffen zu verhindern.

Der jüngste Fall unterstreicht die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen berechtigter Amerikakritik und einem haltlosen Antiamerikanismus. Letzterer kritisiert „die“ Amerikaner pauschal dafür, wie sie angeblich sind, erstere hingegen bestimmte US-Bürgerinnen und Bürger dafür, was sie tun (oder unterlassen). Damit steht nie ein ganzes, in sich höchst diverses Volk unter Verdacht, sondern konkrete soziale Akteure und politisch Handelnde.

Das Bindeglied sind spezielle (und kritikwürdige!) Prägungen der staatsfeindlichen Kultur, die von einem aus der US-Geschichte ererbten Mythos bewaffneter Selbstverteidigung bis zu einem skandalös unfairen Wahlsystem reichen, das die republikanische Rechte (genau wie früher rassistische Demokraten) in die Lage versetzt, unhaltbare Zustände gegen den Willen der Mehrheit aufrechtzuerhalten.

Die amerikanische Mythologie weist (wie die deutsche, die französische, die kenianische …) moralische Abgründe auf genau wie Höhenflüge, das politische System schwere demokratische Defizite genau wie vorbildliche Freiheitsrechte.

Einigt man sich also auf diese eigentlich selbstverständlichen Unterscheidungen zwischen vermeintlichen Seins zuständen und tatsächlichen Handlungsverantwortlichkeiten, kann man Vorkommnisse und Verhältnisse in den USA rational und ausgewogen beurteilen – und sich der eigenen Gesellschaft zuwenden. Denn die besten Kritiker „Amerikas“ sind ohnehin kluge Amerikanerinnen und Amerikaner. Und die Zielrichtung des Antiamerikanismus ist gar nicht Kritik an den USA, sondern die Projektion dieses Feindbilds auf die eigene, angeblich höherwertige Gesellschaft. Diese wird in analogen Identitätskonstrukten bemessen, nicht in konkreten Handlungen bestimmter Mitglieder, die anderen nicht zuzurechnen sind. Statt also anzuerkennen „Amerika ist anders“ (Peter Lösche), meint man „Wir sind anders“ (und besser).

Damit haben sich bedeutende Landeskenner von Max Horkheimer (während der Vietnam-Proteste der 1960er-Jahre) und Dan Diner (zur Zeit der zuvörderst gegen die USA gerichteten Friedensbewegung der 1980er-Jahre) bis Gesine Schwan mit weiteren Vertretern der Politikwissenschaft auseinandergesetzt – ohne durchschlagenden Erfolg.

Der Antiamerikanismus ist in der deutschen und europäischen politischen Kultur fest verankert und, wie es zählebigen Vorurteilen eigen ist, durch kein Argument zu beseitigen. In vieler Hinsicht war und ist der Antiamerikanismus dabei ein Antisemitismus, heute verkappt in der Attacke auf „Globalisten“ wie George Soros, seinerzeit bei den Nazis ganz offen. Sie wollten jüdische Machenschaften und Hintermänner im Bolschewismus erkennen, aber vor allem beim Hauptfeind, der „Ostküste“ der Vereinigten Staaten. Diskurse der DDR haben die Seelen-Verwandtschaft in der Propagandafigur des „Antiimperialismus“ perpetuiert, die Dritte-Welt-Solidarität machte den „Weltpolizisten USA“ für alles verantwortlich, was in der Welt schieflief. Auch den Islamismus, der in Amerika den „Satan“ erblickt, befeuert weniger religiöse Motive als politische Vorurteile. Ansatzpunkte dafür boten und bieten zum Teil katastrophale politische Fehler und Versäumnisse der Vereinigten Staaten im Mittleren Osten und in anderen Regionen der Welt.

Die aktuelle Variante des Antiamerikanismus ist die Kehrseite der anti-antikommunistischen Schonung der Sowjetunion bis 1990, die in eine realitätsblinde Russophilie überging. Die Rechtfertigungen Wladimir Putins in der Linken sind ein bizarres Relikt der DDR, und auch Konservative wie Alexander Gauland und mit ihm die versammelte radikale Rechte Europas von Marine Le Pen bis Viktor Orbán pflegen eine pauschale Verachtung Amerikas und einen Antagonismus zur US-Politik, der den Feind des Feindes zum Freund macht.

Deutschland ist seine Sehnsucht nach einer Mittel- und Mittlerposition zwischen Ost und West nie ganz losgeworden. Und selbst heute, da Präsident Joe Biden Anstrengungen unternimmt, die westlichen Demokratien und das Völkerrecht gegen die Autokratien in Russland und China zu einigen, grassiert das als Friedenssehnsucht verbrämte Misstrauen, „die Amis“ würden damit nur eigene imperiale Bestrebungen wieder aufnehmen. Man weiß ja, wie sie sind …


**: Deutsches Liedgut:
1984 dichtete Herbert Grönemeyer
in seinem gleichnamigen Gassenhauer:
Oh Amerika / Du hast viel für uns getan
Oh Amerika / Tu’ uns das nicht an.
In einer Strophe heißt es dann auch noch:
Lad’ Rußland endlich zu dir ein
Einigt, entrüstet euch, Amerika
Oder schießt euch gemeinsam auf den Mond
Schlagt euch dort oben, der ist unbewohnt

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