Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Macht ist gefühlt ein hässliches Wort. Denn es impliziert, kaum dass man es in den Mund genommen hat, seinen Missbrauch, individuell oder systemisch. Dabei ist Macht per se weder gut noch schlecht. Gesellschaftlich ist sie in jedem Falle konstitutiv.
Derzeit beschäftigt uns eine ganze Reihe von Staatschefs, die ihre Macht aus der Sicht freiheitlicher Demokratien schwer missbrauchen, der eigenen Bevölkerung Freiheitsrechte entziehen, sie unterdrücken, ausbeuten oder auf ihre Kosten gar Kriege führen. Gesellschaftspessimisten würden sogar behaupten, es seien derer mehr geworden in den vergangenen ein oder zwei Dekaden.
Das kurze Wort Macht hat allerdings auch deshalb eine negative Konnotation, weil ihr Gegenteil, die Ohnmacht, stets mitgedacht wird, die sich derzeit vor allem gegenüber Autokraten oder gar Diktatoren bedrückend aufdrängt.
Vor einigen Wochen ist zum Thema „Macht“ unter dem Titel Power for All ein bemerkenswertes Buch erschienen. Die Wissenschaftlerinnen Julie Battilana (Harvard) und Tiziana Casciaro (Toronto) definieren darin Macht als die Fähigkeit, das Verhalten anderer durch Zwang oder Überzeugung zu beeinflussen.
Dass sie damit einen originellen Blick jenseits aller bekannten Gender-Diskussionen auf ein großes Thema wagen, sei nur am Rande erwähnt. Interessant sind vor allem zwei ihrer Hypothesen, die das Beharrungsvermögen der Macht erklären und damit die so nahe liegende Frage beantworten helfen, die unlängst sogar schon US-Präsident Joe Biden öffentlich bewegt hat: Warum nur tut sich ein Volk so schwer, sich seiner Unterdrücker zu entledigen?
Zunächst setzen Battilana und Casciaro bei den Trugschlüssen an, denen Individuen gemeinhin in Bezug auf die Macht unterliegen. Drei wissenschaftlich nachweisbare und sehr plausible seien hier genannt: Menschen glauben erstens mehrheitlich fest daran, dass Macht etwas ist, das man dauerhaft besitzt. Sie sind ferner davon überzeugt, dass man für Macht besondere Eigenschaften braucht. Und sie meinen drittens, dass Macht an bestimmte herausgehobene Positionen gebunden ist. Die Wirkung dieser Fehlannahmen auf ein Kollektiv kann verheerend sein. Sie vereitelt die Erkennung von Machtmissbrauch und damit letztlich den Kampf dagegen.
Dazu arbeiten die Machthabenden aktiv an ihrem Machterhalt, mitunter unbewusst, durch den Ausschluss von Empathie, ein übersteigertes Gefühl der Handlungsfähigkeit sowie durch Selbstlegitimation. In all dem werden sie ausgerechnet von den Machtlosen toleriert. Trugschlüsse sind nun mal sehr wirkmächtig.
Eine entscheidende Rolle – und das wäre der zweite Ansatz der Forscherinnen – spielen zudem die Narrative der Machthaber: „Geschichten zählen zu den effektivsten Mitteln, um andere zu überzeugen, weil sie nicht nur an unseren Verstand appellieren, sondern auch an unsere Gefühle.“ Je plausibler diese, desto größer das Beharrungsvermögen der Macht. Die Autokraten Putin etwa, Erdoğan, Xi Jinping oder der iranische Religionsführer Ali Chamenei haben sich eben auch als große Geschichtenerzähler erwiesen, deren Narrative sogar bei denen verfangen, von denen man erwarten würde, dass sie es eigentlich besser wüssten.