Orwell’sche Neusprech-Verdrehungen, 2022

Die russische Kriegsdrohung und der Versuch, sich eine Einflusszone in Osteuropa garantieren zu lassen, verlangt von Deutschland Geschlossenheit und Schulterschluss mit den Verbündeten

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PICTURE ALLIANCE/DPA/POOL | ALEXEI NIKOLSKY
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Orwell’sche Neusprech-Verdrehungen, 2022

Die russische Kriegsdrohung und der Versuch, sich eine Einflusszone in Osteuropa garantieren zu lassen, verlangt von Deutschland Geschlossenheit und Schulterschluss mit den Verbündeten

„Es handelt sich im Hinblick auf Nord Stream 2 um ein privatwirtschaftliches Vorhaben.“ So formulierte Bundeskanzler Olaf Scholz am frühen Morgen des 17. Dezember 2021 nach seinem ersten Europäischen Rat in Brüssel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Die Frage nach der umstrittenen Ostsee-Gaspipeline habe er „schon fast vermisst“, schmunzelte der etwas müde wirkende Kanzler.

Es war der erste Fehlgriff des ansonsten auf dem diplomatischen Parkett trittsicher gestarteten Scholz. Denn der Rückzug auf die jahrelang störrisch gehaltene Behauptung, Nord Stream 2 habe mit Politik nichts zu tun, wirkt in Zeiten sehr ernst zu nehmender militärischer Drohungen Moskaus deplatziert und unglaubwürdig.

Zudem leistete sie dem Eindruck Vorschub, die neue Bundesregierung sei bei der Frage des Umgangs mit Russland gespalten. Denn Außenministerin Annalena Baerbock hatte bei einem weiteren Überfall Russlands auf die Ukraine ein Ende für die Pipeline nicht ausgeschlossen. Russlands Botschafter in Deutschland, Sergei Netschajew, nutzte denn auch den Scholz-Satz zur Jahreswende, um einmal mehr die sofortige Inbetriebnahme der Pipeline zu fordern: „Ich höre aus der neuen Bundesregierung die Einschätzung, dass es ein privatwirtschaftliches Projekt ist, das nicht mit der Politik verbunden werden sollte.“

Vor dem Hintergrund des abermaligen massiven russischen Truppenaufmarschs an den Grenzen zur Ukraine und der aggressiven Rhetorik aus Moskau wäre es für Scholz ungleich besser gewesen, sich stattdessen auf die „Erklärung von Washington“ zu beziehen, den deutsch-amerikanischen Ausgleich in der Causa Nord Stream 2, die seine Vorgängerin Angela Merkel – im Einvernehmen mit dem damaligen Vizekanzler – am 15. Juli 2021 unterschrieb.

Darin heißt es unter anderem: „Wir werden Versuchen zur Schaffung von [konkurrierenden Einfluss-]Sphären entgegenwirken, unabhängig davon, ob sie durch Versuche der Annektierung von Gebieten, durch die Kontrolle digitaler Infrastruktur, durch länderübergreifende Unterdrückung oder durch Versuche, Energieströme als Waffe einzusetzen, geschaffen werden sollen.“





Auf die vertragliche Anerkennung genau einer solchen russischen Einflusssphäre zielt Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem Frontalangriff auf die europäische Sicherheitsordnung. Mit seinem „Ultimatum“ vom 17. Dezember an den Westen, mit den vor Weihnachten publizierten Vertragsentwürfen über „Sicherheitsgarantien“, die Washington und die Nato liefern sollen, unter anderem durch den Ausschluss der Aufnahme weiterer Staaten ins Atlantische Bündnis und den Verzicht auf Kooperation mit Nicht-Nato-Mitgliedern im ehemaligen sowjetischen Herrschaftsraum, wollen Putin und sein Regime zurück in die Zukunft.

Russland soll in Nachfolge der Sowjetunion zu alter imperialer Größe finden, anerkannt von aller Welt, vor allem aber vom angeblich ewigen Antagonisten, dem „Westen“. Dass zugleich Russlands älteste Nichtregierungsorganisation Memorial per Gerichtsbeschluss „liquidiert“ wurde, ergänzt den Anspruch im Inneren: An den Massenverbrechen Josef Stalins, deren Aufarbeitung sich Memorial widmete und zu denen auch der Hungertod von Millionen Ukrainern in den 1930er-Jahren gehört, soll nicht länger gerührt werden.

Mit seinem Ultimatum sagt sich Putin von all dem los, was Russland seit den 1990er-Jahren völkerrechtlich bindend vereinbart hat, unter anderem die Nato-Russland-Grundakte. Das Budapester Abkommen von 1994, in dem Moskau (zusammen den Vereinigten Staaten und Großbritannien) der Ukraine territoriale Integrität im Gegenzug für die Abgabe seiner sowjetischen Atomwaffen versprach, ist mit der Annexion der Krim ohnehin gebrochen. Dass Putin trotz der russischen Streitkräfte und Arsenale, einschließlich der „Doomsday“- und Hyperschall-Waffen oder der jüngst wider alle Konventionen getesteten Weltraumrakete, sein Land als von der Nato verfolgt und bedroht hinstellt, während sich die Blutspur expansiver russischer Militärpolitik von Syrien und Libyen mittlerweile auch quer durch Afrika zieht, ist da nur eine von vielen Orwell’schen Neusprech-Verdrehungen, auf die die russische Propaganda setzt.

Auf eine Welt, in der es Staaten mit minderer Souveränität gibt, die qua internationalen Rechtsakt von Moskau aus mitregiert werden, kann sich keine deutsche Regierung einlassen. Um sie zu verhindern, hilft nur eine starke, geeinte euro-atlantische Haltung.

Scholz’ Erklärung zu Nord Stream 2 vor Weihnachten hat diese nicht befördert. Und die Versuche Berlins, unter anderem in Gesprächen von Scholz’ außenpolitischem Berater Jens Plötner und dem russischen Ukraine-Unterhändler Dmitri Kosak, das „Normandie-Format“ mit Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland wiederzubeleben, sind aller Voraussicht nach kein probates Mittel. Denn dieses passt nicht länger in Putins neue radikale Welt der Einflusszonen.

Deshalb bleibt für Bundeskanzler Scholz und seine Regierung nur der engstmögliche Schulterschluss mit Washington und den europäischen Verbündeten, gerade denen in Mittel- und Osteuropa. Nur wenn Scholz in seinem für Januar geplanten ersten persönlichen Treffen mit Putin dem russischen Präsidenten das Gleiche sagt wie US-Präsident Joe Biden, dass nämlich ein abermaliger militärischer Angriff Russlands auf die Ukraine schwere wirtschaftliche Konsequenzen hätte, die vor den Energiebeziehungen kaum haltmachen werden, besteht noch die Chance auf wirksame Abschreckung.





Dabei ist hilfreich, dass die „Schröder-Sozialdemokraten“, die – Altkanzler Gerhard Schröder gleich – unbedingt an Nord Stream 2 festhalten und bei Putins Politik kein Fehlverhalten benennen können, ohne nicht mindestens einen weiteren Mitschuldigen „auf der anderen Seite“ zu finden, auf dem Rückzug sind. Michael Roth, der frisch gewählte Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag und zuvor unter Heiko Maas der für Europa zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt, äußerte sich zuletzt in von der SPD lange vermisster Eindeutigkeit. Die russischen Vorschläge seien „inakzeptabel“, Osteuropa „nicht der Vorhof der Macht von Präsident Putin“. Und Nord Stream 2 sei „kein rein wirtschaftliches Projekt“.

Und nur mit solch einer Linie wird die neue Bundesregierung den Test bestehen, den Putin für sie in diesem Winter arrangiert hat. Der Preis für eine abermalige russische Aggression muss hoch, die Haltung Berlins klar sein – klarer als in der Vergangenheit.

Bildnachweise:
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