Jupiter ist abgestürzt. Frankreich entdeckt sein Parlament
Jupiter ist abgestürzt. Frankreich entdeckt sein Parlament
Am 19. Juni 2022 hat Emmanuel Macrons Parteienbündnis „Renaissance“ – ein loser Präsidentenwahlverein – zwar die Wahl gewinnen können, nicht aber die angestrebte absolute Mehrheit im Palais Bourbon. Was in parlamentarischen Demokratien gang und gäbe ist – die mühselige und zeitaufwändige Aushandlung von Kompromissen, die eine Pluralität der Ideen und Interessen spiegelt – stünde nun auch in Frankreich an. Die Franzosen entdecken ihre Volksvertretung, die stets im Schatten der 1962 durch Charles de Gaulle geprägten „präsidentiellen Monarchie“ stand, die François Mitterrand 1964 als „permanenten Staatsstreich“ kritisiert hatte, bevor er 1981 selbst ein republikanischer Sonnenkönig wurde. Auch Macron hat sich stets in diese Tradition gestellt und unwidersprochen den „Jupiter“ gegeben, und Linken-Chef Jean-Luc Mélenchon, der Macron im Wahlkampf taktisch überlegen war, hätte dem ein Ende bereiten können, hätte er sich nicht selbst als Monarch (in Opposition) gebärdet.
Nun ist Jupiter abgestürzt – und Frankreich unregierbar? Die politische Klasse und die breite Öffentlichkeit müssen sich daran erinnern lassen, dass sich auch der 1988 wiedergewählte Mitterrand seine parlamentarische Mehrheit durch den einstigen Rivalen Michel Rocard als Premier sicherte. Ihm fiel die Aufgabe zu, die verlorene Mehrheit der Sozialisten durch eine in Frankreich cohabitation genannte Öffnung zur Mitte auszugleichen. Was er nicht ohne Fortüne erledigte, allerdings unter ständiger Drohung einer vom Präsidenten zu verfügenden Parlamentsauflösung und unter Zuhilfenahme des Verfassungsartikels 49/3, mit dessen Anwendung die Regierung ein Gesetz am Parlament vorbei erlassen kann.
Im Wesentlichen hat die Verfassungspraxis der Fünften Republik, nicht die Verfassung selbst, ein starres Präsidialsystem hervorgebracht. Dabei ist auch Frankreich eine parlamentarische Demokratie, die dem Präsidenten vor allem außen- und sicherheitspolitische Angelegenheiten überlässt. Das politische System Frankreichs ist nicht nur durch eine starke Personalisierung gekennzeichnet, es baut auch auf dem im 19. Jahrhundert in der Assemblée nationale gekürten Rechts-Links-Dualismus auf, der ebenfalls passé ist. Die Ur-Konfrontation Sozialisten/Kommunisten versus (Neo-)Gaullisten/Rechte hat spätestens im Desaster der Parti Socialiste (PS) und der Niederlage der Republicains (LR) bei der jüngsten (und schon der vorherigen) Präsidentschaftswahl ihr Ende gefunden. Hervorgetreten war ein in Frankreich bis dato marginales liberales Zentrum in Gestalt von Macrons Sammelbewegung La Republique en Marche (LRM); und diese sozialliberale Mitte ging in den Zweikampf mit der über die Jahre erstarkten Front National (FN, jetzt Rassemblement National) Marine Le Pens und entschied diesen 2017 souverän, 2022 nur mit einiger Mühe für sich.
Zur Überraschung vieler war nämlich ein dritter Pol entstanden: die von Mélenchon (einem ehemaligen PS-Senator) geführte Bewegung „La France Insoumise“, ein Hybrid aus der Linksunion der 1980er-Jahre und einem eher an Le Pen erinnernden autoritären Nationalismus. Dass ein erheblicher Teil der französischen Grünen der von Mélenchon zur Parlamentswahl aus dem Boden gestampften „Nouvelle Union populaire écologique et sociale“ (Nupes) beitrat, verweist auf die Schwäche eines vierten Pols, der ökologischen Partei; im französischen Mehrheitswahlsystem gelangen ihr stets nur Einzelerfolge, obwohl grüne Mentalitäten in Frankreich kaum geringer ausgebildet sind als in anderen EU-Ländern. Die neuen Spaltungslinien spiegeln sich in den Blasen und Echokammern der sozialen Netzwerke. Und wie üblich kündigen außerparlamentarische Kräfte an, die politische Auseinandersetzung auf die Straßen zu verlagern.
Die erneut außerordentlich geringe Wahlbeteiligung deutet an, dass die politische Kultur Frankreichs, entgegen dem vom Macron versprochenen Aufbruch, sich in einem beklagenswerten Zustand befindet. Der Name dafür ist dégagisme, eine frontale Verweigerung der Mehrheit der vor allem männlichen Wähler, sich überhaupt an etwas anderem zu beteiligen als resigniertem oder wutschnaubendem Dagegensein. Auch Mélenchon und Le Pen vermögen diese Unzufriedenen nicht mehr für Parlaments- und Parteiendemokratie zu mobilisieren. Sie sind übrigens im Kern Putinisten, die derzeit den Mund halten, aber die EU, wie wir sie kannten, verlassen wollen. Die Zukunft der Achse Paris-Berlin (plus Rom-Brüssel) steht in den Sternen.
Le Pens Rassemblement National (RN) ist nun in elfmal größerer Fraktionsstärke im Parlament vertreten – auch ohne Hilfe des Verhältniswahlrechts, das der Machiavellist Mitterrand 1986 vorübergehend eingeführt hatte, um die extreme Rechte auf Kosten der gemäßigten zu stärken. Dieses zynische Kalkül ist aufgegangen. Als Fraktionschefin kann sich Le Pen oder ein Nachfolger profilieren – für die nächste Präsidentschaftswahl, genau wie alle anderen Prätendenten. Le Pen wird versuchen, den wichtigen Haushaltsausschuss zu übernehmen. Die Wahl der extremen Rechten ist in vielen Regionen zur Gewohnheit geworden, die „republikanische Front“ gegen sie ist gefallen.
Das zeigt: Nicht allein der präsidentielle Monarch missachtet das Parlament, auch die dort eingezogenen Parteien nehmen keine konstruktive Rolle an. Mit diesem Parlament lassen sich weder sozialpolitische Reformen noch die überfällige Klimapolitik machen noch der europafreundliche Kurs Frankreichs halten. Mélenchon, dessen Bündnis schon wieder zerfällt, ist kaum ein sozialliberaler modus vivendi zuzutrauen, und eine Mitte-Rechts-Koalition mit den Republikanern lässt ebenfalls keine stabile Mehrheit erkennen.
Was bleibt also, außer baldige Neuwahlen zu forcieren? Der entmachtete Präsident müsste die „neue Methode“ anwenden, die er nach seiner knappen Wiederwahl angekündigt, aber nicht eingeübt hatte: ein Arrangement mit den tatsächlichen Verhältnissen der polarisierten Gesellschaft und ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten, die nicht länger von oben dirigiert, sondern auf Augenhöhe überzeugt werden wollen. Das wird schwierig sein in einem Land mit etatistischer Tradition, schwachen intermediären Instanzen und einer von militanter Rhetorik beherrschten Zivilgesellschaft.