Populistische Pappkameraden

Der Kampf um die historisch-kulturelle Deutungsmacht ist mehr als ein akademisches Glasperlenspiel

10
10
COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/AUTOR UNBEKANNT
Aufgehobene Vergangenheit: Wer berief sich heute noch auf Bismarck? 1900 stand sein Denkmal noch vor dem Reichstag.
10
10
COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/AUTOR UNBEKANNT
Aufgehobene Vergangenheit: Wer berief sich heute noch auf Bismarck? 1900 stand sein Denkmal noch vor dem Reichstag.

Populistische Pappkameraden

Der Kampf um die historisch-kulturelle Deutungsmacht ist mehr als ein akademisches Glasperlenspiel

Wenn Geschichte zum Argument wird, geht es immer um die Zukunft. Geschichtspolitik ist subtiler als Sozialpolitik oder Innenpolitik, doch sie ist, wenn man so will, ein Politikfeld wie jedes andere, nur allgegenwärtiger. Alle Abgeordneten und erst recht Kanzlerinnen und Staatsoberhäupter müssen sich auf ihm behaupten. Häufig betreten sie das Feld der Geschichtspolitik, ohne es zu bemerken. Im Rekurs auf die Vergangenheit wurzeln fast alle Argumente, die im politischen Diskurs vorgetragen werden.

Politikerinnen und Politiker wie Bürgerinnen und Bürger konstruieren ein Gestern, um das Heute zu vermessen und das Morgen zu entwerfen. Fast jede Forderung nach mehr Chancengerechtigkeit oder weniger Klimabelastung, besserer Debattenkultur oder größerer Eigenverantwortung impliziert den Vergleich mit der Vergangenheit. Politik ist so im Grunde Geschichtsschreibung, wenn man einen weiten, nicht auf die Fachdisziplin beschränkten Begriff von Geschichte anlegt. Denn Politik kann gar keine Visionen entwickeln und keine Entscheidungen treffen, ohne auf die Empirie der Vergangenheit zuzugreifen und sie entsprechend auszulegen, um das eigene Argument, die eigene Zielstellung zu stützen.

Politik ist vor allem auch unentwegte Traditionsstiftung. Traditionen sind ja nichts, was die Geschichtswissenschaft in den Quellen auffinden könnten. Sie sind immer nur in der Gegenwart da, nämlich dann, wenn jemand sie beschwört – als Sprechakt, also als ein politisches Sprechen, mit dem man etwas ganz Bestimmtes bewirken will. Etwas zur Tradition zu erheben, ist immer Machtpolitik, sei es in der Mikrokommunikation – Redegepflogenheiten im Plenarsaal sind ein prominentes Beispiel – oder mit Blick auf die vermeintlichen Traditionen ganzer Gesellschaften. Wer Traditionen definiert, übernimmt die Regie, beansprucht, für das soziale Ganze zu sprechen, und legt fest, was die Regeln sind. Diese eher beiläufigen, alltäglichen Akte geschichtspolitischen Handelns sind mindestens so bedeutsam wie große Gedenkfeierlichkeiten, Mahnmale und Erinnerungsorte. Denn mit alltäglicher Geschichtspolitik lässt sich zunächst unmerklich, aber dafür mittelfristig umso nachhaltiger gesellschaftliche Hegemonie, also kulturelle Deutungsmacht erringen – um an ein Konzept des italienischen Denkers Antonio Gramsci anzuknüpfen.

Genau auf diesem Feld sind seit einigen Jahren die populistischen Nationalisten in ganz Europa mit Verve unterwegs. Es geht um die Instrumentalisierung von Geschichte durch populistische Nationalistinnen und Nationalisten, um ihren Versuch, Vergangenheitsdeutungen zu generieren, um ihren Gesellschaftsentwurf zu legitimieren. Zugegebenermaßen trifft dies für jegliche Form der Geschichtspolitik zu, auch für die liberal-demokratische. Deshalb haben Historikerinnen und Historiker auch die Aufgabe, nicht nur politisch opportune Erzählungen zur Legitimation der Gegenwart zu liefern, sondern auch verzerrende geschichtspolitische Handlungen ins rechte Licht zu rücken.

Die Geschichtswissenschaft tut dies fachintern schon lange. Mittlerweile aber setzen rechtspopulistische Akteure in ihren Milieus und in sozialen Netzwerken dazu an, der republikanischen Erinnerungskultur eigene Deutungen von Geschichte entgegenzusetzen.

Den populistischen Nationalisten in Europa ist gemein, dass sie den geschichtspolitischen Fokus von den Gewalt- und Diktaturerfahrungen ablenken, die andere Nationalisten vor ihnen zu verantworten hatten. Sie wenden sich damit vom erinnerungspolitischen Konsens der liberalen Demokratien ab, insofern er sich antifaschistisch präsentiert. Das ist ein trivial erscheinender, aber strategisch bedeutsamer Punkt, der weitreichender ist als die Frage, inwiefern Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten den Holocaust leugnen oder die NS-Diktatur verharmlosen.

Wesentlich ist, dass es ihnen darum geht, andere Aspekte in der Geschichte höher zu gewichten, um darauf ihre Zukunftsvisionen zu gründen. Der ominöse „Vogelschiss“ in 1000 Jahren deutscher Geschichte, Alexander Gaulands Charakterisierung der NS-Zeit, soll gar nicht primär die Gegner provozieren, sie erhebt den Anspruch, zu definieren, was deutsche Geschichte „eigentlich“ sei. Es ist das Glanzvolle, das Heroische, das die Riege des Rechtspopulismus wieder aus der Mottenkiste holt, um Identität und Nationalstolz zu generieren. Wie im 19. Jahrhundert versucht der Nationalismus auch heute, Traditionen eines über Jahrhunderte gewachsenen Deutschtums zu erfinden – ob kulturell oder ethnisch, heute vor allem „ethnopluralistisch“.

Wesentlich ist, dass sie mit einem Pappkameraden arbeiten: Liberal-demokratische Erzählungen würden die eigene Nation durch den Fokus auf Krieg und Verbrechen beständig abwerten – Stichwort „Schuldkult“. Für eine republikanische Geschichtspolitik, die den Tag der deutschen Einheit als Nationalfeiertag begeht, ist der Vorwurf ziemlich haltlos. Die professionelle Geschichtswissenschaft hat erst recht in den vergangenen Jahrzehnten ein differenziertes Bild von Deutschland in der Welt entwickelt, wobei sie zwischen dem deutschen Staat und der deutschsprachigen Bevölkerung zu unterscheiden weiß. Der Bezug zur Nation ist unterm Strich weder positiv noch negativ – wie es sich gehört für eine Wissenschaft.

Eine andere Strategie der Rechtspopulisten ist es, sich republikanische Narrative anzueignen und sie weiterzuspinnen, um liberal-demokratische Eliten anzugreifen. Matteo Salvini etwa ordnete sich mit der Lega Nord anfangs dem Antifaschismus zu, um sich in die Tradition der Resistenza zu stellen, die von links erfunden und in Norditalien wachgehalten wurde. Antifaschismus kann in Italien nationalistisch gerahmt werden, kämpften die Partisanen doch gegen deutsche Besatzer und die mit ihnen kollaborierenden „Nazifaschisten“. Den Befreiungsmythos, der sich daraus entwickelt und die Erinnerungskultur der italienischen Republik tief geprägt hat, macht sich Salvini nun zu eigen und schreibt ihn fort – gegen vermeintliche „Besatzer“ aus Brüssel, gegen eine neuerliche Suprematie Deutschlands über Italien oder auch gegen vermeintliche chinesische Übernahmen der Halbinsel in wirtschaftlicher Hinsicht. Freiheit, Libertà, ist das Losungswort Salvinis gegen alle möglichen Feinde, die er sich von Fall zu Fall sucht.

Die „Freiheit“ des „Volkes“ ist, wenn man es ganz konzise fassen will, das grundlegende geschichtspolitische Skript der populistischen Nationalisten. Sie ähneln darin den nationalistischen (und demokratischen) Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts, knüpfen aber eher an die antitotalitären Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts an. Denn dies erlaubt es ihnen, die liberal-demokratischen Regierungen zu neuen „Diktaturen“ zu stilisieren.

Es gilt daher heute umso mehr, diese Freiheits- und Befreiungsbewegungen erinnerungspolitisch als Erbe zu reklamieren, das die liberale Demokratie angetreten hat – und das sie gegen rechts verteidigen darf. Die Geschichtswissenschaft liefert dazu Stoff genug.

Weitere Artikel dieser Ausgabe