Projektionsfläche Putin

30 Jahre deutsch-deutsche Russlandbilder – eine Bilanz aus aktuellem Anlass

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Projektionsfläche Putin

30 Jahre deutsch-deutsche Russlandbilder – eine Bilanz aus aktuellem Anlass

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung stellt sich verstärkt die Frage, wie „einig“ sich die Deutschen sind. Meinungsumfragen legen regelmäßig nahe, dass sich die Russlandansichten in Ost- und Westdeutschland unterscheiden. Ostdeutsche Politikerinnen und Politiker vermitteln medienwirksam den Eindruck einer besonderen wirtschaftlichen Nähe zu Russland, fordern eine Lockerung der als Antwort auf die Krim-Annexion und den Krieg in der Ostukraine verhängten Sanktionen oder beziehen gemeinsam Stellung gegen den Baustopp von Nord Stream 2 als Reaktion auf den Anschlag auf Alexej Nawalny.

Die Annahme historischer Kontinuitäten differenziert nicht zwischen der ehemaligen Sowjetunion und dem heutigen Russland. Sie impliziert ein zu positiv konnotiertes Verhältnis zwischen DDR-Bürgern und der Sowjetunion – eine gewisse politische Naivität – und reiht sich somit nahtlos in die westdeutschen Stereotypen über Ostdeutsche ein.

Die Frage nach den Differenzen im Russlandbild ist politisch relevant: Für die deutsche Außenpolitik verbindet sich damit die Herausforderung, eine kohärente Politik zu formulieren. Deutschlands Schlüsselrolle in der EU-Russland-Politik macht dieses Thema zu einer europaweiten Frage.

Eine demnächst erscheinende Studie des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) ging im November 2019 anhand einer Umfrage und Fokusgruppendiskussionen den Fragen nach, wie groß die Unterschiede wirklich sind, welche Rolle dabei die persönlichen Kontakte nach Russland spielen und ob es typische Argumentationsmuster hinter russlandaffinen Einstellungen gibt.

Die Umfrage testete verschiedene Assoziationen mit dem Namen Wladimir Putin: Der jetzige Wohnort ist bei der Assoziation „Bedrohung für Europa“ wichtiger als der Geburtsort. Persönliche Kontakte nach Russland lassen Putin weniger als Bedrohung und stärker als „effektiven Präsidenten“ erscheinen, während sie beim Gedanken an „Repressionen in Russland“ keine signifikante Rolle spielen. Die Menschen in der deutschen Hauptstadt sind sich der Repressionen in Russland stärker bewusst.

Allerdings sind Faktoren wie Alter, Geschlecht und Bildungsgrad, unabhängig vom Geburts- oder Wohnort, ebenfalls von Bedeutung. Die ältere Generation assoziiert Putins Namen stärker mit Repressionen als die jüngere Generation – ein Hinweis darauf, dass diejenigen mit persönlicher DDR-Erfahrung keine Illusionen über die Kontrollmechanismen der Sowjetunion oder Russlands haben. Männer neigen eher als Frauen dazu, Putin als „effektiven Präsidenten“ zu sehen, aber sie benennen auch die Repressionen häufiger. Frauen assoziieren mit Putin eher eine Bedrohung für Europa als Männer. Mit einer Orientierung zum rechten Rand des deutschen Parteienspektrums steigt die Wahrscheinlichkeit, in Putin einen effektiven Präsidenten zu sehen.

Laut ZOiS-Umfrage wünschen sich ein Drittel der Deutschen engere deutsch-russische Beziehungen. 23 Prozent fanden die deutsch-russischen Beziehungen genau richtig, und 9 Prozent gaben an, dass die Beziehungen zu eng seien. Mit knapp 40 Prozent war der Anteil derer, die auf diese Frage keine Antwort gaben, sehr hoch.

Die aus den Fokusgruppendiskussionen ersichtlichen Muster der positiven Russland- bzw. Putin-Bilder sind sich sehr ähnlich in Ost und West. Neben einer deutsch-deutschen Dankbarkeit für die durch „Moskau“ ermöglichte friedliche Wiedervereinigung, stehen vor allem Argumente, die Reaktionen auf die deutsche Innen- und Außenpolitik filtern. Zu den an Putin gemessenen Erwartungen an die deutsche Politik gehören: der Wunsch nach „Stärke“ bei der Durchsetzung politischer Entscheidungen, „Volksnähe“ der führenden Politikerinnen und Politiker und „Nationalstolz“.

Die Diskutierenden bringen unaufgefordert immer wieder ein Gefühl der Unwissenheit über Russland zum Ausdruck, gepaart mit einer ausgeprägten Skepsis gegenüber der als einseitig negativ empfundenen deutschen Medienberichterstattung. So ist etwa das Unwissen über das Sanktionsregime der EU und Russlands groß. Die Kritik bezieht sich generell auf das Prinzip von Sanktionen, die in der Regel die „Falschen“ treffen. Die häufig in Meinungsumfragen gestellten Fragen nach der Stärkung oder Lockerung von Sanktionen gegenüber Russland sind somit nur begrenzt aussagekräftig.

Die Diskussion über Russland und Putin bietet in erster Linie eine Projektionsfläche für Kritik und Forderungen in Bezug auf die deutsche, europäische und amerikanische Politik. Sie lenkt die Aufmerksamkeit somit auf die Herausforderungen, denen sich Demokratien stellen müssen. Es scheint, als ob die persönlichen Alltagserfahrungen mit der Sowjetunion und Wahrnehmungen des heutigen Russlands 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Möglichkeit für einen Gesprächseinstieg bieten – in Ost- und Westdeutschland und vielleicht auch über verbleibende innere Grenzen hinweg.

Es wäre einen Versuch wert und könnte dabei helfen, die Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.

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