Russlands Präsident lässt sein Militär an den Grenzen zur Ukraine aufmarschieren. Die EU und Deutschland fürchtet er nicht
Russlands Präsident lässt sein Militär an den Grenzen zur Ukraine aufmarschieren. Die EU und Deutschland fürchtet er nicht
Seit zehn Tagen rollen die russischen Panzer. Meist über den Schienenweg hat Moskau so viele militärische Kräfte entlang der Grenze zur Ukraine, auf der 2014 völkerrechtswidrig annektieren Krim und im Schwarzen wie Asowschen Meer zusammengezogen wie seit dem Überfall auf die Ukraine vor sieben Jahren nicht mehr.
Das berichtete diese Woche die investigative russische Website The Insider. Auch die 76. Luftlandedivision, normalerweise in Pskow im Nordwesten Russlands stationiert, ist zurück auf der Halbinsel. Sie spielte sowohl beim Georgien-Krieg 2008 als auch bei der Einnahme der Krim und anschließend im ukrainischen Donbass eine zentrale Rolle.
Dies ist dem Westen nicht entgangen, auch der deutschen Politik nicht, die sich 2014 völlig überrumpelt zeigte, als Russlands Präsident Wladimir Putin mit militärischer Gewalt Grenzen in Europa verschob. Zur nachhaltigen Destabilisierung der Ukraine zwang man dem Land danach im Osten einen separatistischen Bürgerkrieg auf, der bislang mehr als 13 000 Menschenleben kostete und nach einer längeren Zeit relativer Ruhe Ende März wieder stärker aufflammte – ebenfalls mit Grüßen aus Moskau.
US-Generalstabschef Mark Milley griff zu Beginn der Krise zum Telefon und rief seinen russischen Amtskollegen Waleri Gerassimow an; am Karfreitag versicherte US-Präsident Joe Biden dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj seiner „unerschütterlichen“ Unterstützung. Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonierte zweimal mit Putin, zuletzt am Donnerstag, und forderte den „Abbau der Truppenverstärkungen“; im Gegenzug musste sie sich offenbar eine Litanei der Vorwürfe gegen die Ukraine anhören.
Über Ostern gab auch das Auswärtige Amt, zusammen mit dem Quai d’Orsay, dem französischen Außenministerium, eine gemeinsame Stellungnahme heraus: Deutschland und Frankreich seien besorgt „über die steigende Zahl der Waffenstillstandsverletzungen.“ Und weiter: „Wir beobachten die Situation, insbesondere die Bewegungen russischer Truppen, sehr aufmerksam und rufen die Parteien zur Zurückhaltung und sofortigen Deeskalation auf.“
Der Aufruf an die Adresse „der Parteien“, ganz so, als könne man nicht recht einordnen, wer zwischen Kiew, Donezk, Luhansk und Moskau der Aggressor ist, hat mittlerweile Tradition. Die Haltung unterstreicht die Machtlosigkeit der Europäer.
Forderten die Kanzlerin und Außenminister Heiko Maas vergangenen Herbst noch energisch Aufklärung von den russischen Behörden, wer Oppositionspolitiker Alexei Nawalny mit dem weltweit geächteten Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet habe, so sehen sie dieser Tage hilflos zu, wie nicht etwa die Täter, sondern eben jener Nawalny ins Gefangenlager geworfen wird, wo er nun einmal mehr um sein Leben kämpft – kein Verhalten, mit dem man sich in Moskau Respekt verschaffte. Auch das unbedingte Festhalten an der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 seitens der Bundesregierung dürfte im Kreml mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen werden. Denn man hat die Deutschen genau dort, wo man sie haben wollte.
Putin nimmt Deutschland und die Europäische Union als Machtfaktor nicht ernst. Das zeigte auch die öffentliche Vorführung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell bei dessen unsäglichem Moskau-Besuch Anfang Februar. Um sicherzugehen, dass man auch richtig verstanden werde, warf der Kreml gleichzeitig noch einen hochrangigen deutschen Diplomaten mit fadenscheiniger Begründung aus dem Land. Die Bundesregierung hielt das jedoch nicht ab, gleich wieder „das Gespräch zu suchen“.
Außenstaatssekretär Miguel Berger reiste Anfang März zu zweitägigen Konsultationen nach Moskau, und bald darauf versuchte Berlin, die EU-Partner für einen „Klimadialog“ mit Russland zu erwärmen – eine Idee, die bei den Russen noch stets auf Desinteresse stieß. In Moskau empfing man derweil wie zum Hohn eine AfD-Delegation unter der Führung Alice Weidels – wohl um auszuloten, wie man den transatlantischen, wertebasierten Westen noch ein bisschen weiter untergraben könnte. Die fortgesetzte Unterstützung Putins für Europas Rechtspopulisten und Rechtsextreme ist eine Sache, bei der selbst Rosneft-Aufsichtsratsvorsitzender Gerhard Schröder, dessen Verständnis für Putins Politik sonst keine Grenze kennt, nicht mitkommt, wie er Anfang des Jahres dem Spiegel sagte.
Wohl aber die aktuelle Bundesregierung – und Politiker mit Kanzlerambitionen, die sich am russischen Verhalten offenbar nicht weiter stören. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder schenkte Moskau diese Woche mit seiner Ankündigung, den mangels verlässlicher Daten weiter auf Zulassung in der EU wartenden Corona-Impfstoff Sputnik V in Bayern produzieren lassen zu wollen, einen prächtigen Propagandasieg. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn will nun bilateral ausloten, ob man Sputnik V für Deutschland beschaffen sollte (der einzige Coronavirus-Impfstoff übrigens, der mit eigenem Twitter-Account und Desinformationskampagne daherkommt). Und das, obwohl EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bereits vor zwei Wochen klipp und klar erklärte: „Europa braucht Sputnik V nicht.“
Von den Deutschen muss Putin also nichts befürchten, sollte er sich zu einem neuerlichen Militärangriff entscheiden. Eigentlicher Adressat des Aufmarsches scheint ohnehin die Biden-Regierung, der man ins Gedächtnis rufen möchte: Russland ist auch noch da! Nichts hat Putin stärker beleidigt, auch nicht Bidens jüngste Titulierung als „Killer“, als als „regionale Macht“ bezeichnet zu werden, wie es Barack Obama 2014 tat.
Die Machtdemonstration an der ukrainischen Grenze sollte man gemeinsam mit der Hochrüstungspolitik betrachten, die Russland derzeit in der Arktis betreibt. Nach Recherchen des Senders CNN baut Moskau dort gerade seine Stellungen und Stützpunkte massiv aus und testet, offenbar erfolgreich, seine neuesten „Doomsday“-Waffen. Dazu zählt der Poseidon 2M39-Torpedo, der – mit einem Nuklearreaktor als Antrieb ausgestattet und mit Atomsprengköpfen bestückt – unentdeckt „radioaktive Tsunamis“ auslösen und ganze Küstenabschnitte auf Jahrzehnte unbewohnbar machen soll, zum Beispiel an der US-Ostküste.
Denn die Aufrüstung in der Arktis dient nicht nur der Kontrolle der „Nördliche Seeroute“, dem ungleich schnelleren Seeweg von Asien nach Europa und in die Vereinigten Staaten über das Nordpolarmeer; dessen ganzjährliche Öffnung dürfte infolge der Erderwärmung in Kürze Realität werden. Sie dient auch und gerade dem Ziel, Druck auf die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten aufzubauen. Von der Arktis aus ließe sich leicht noch stärkeren strategischen Einfluss auf den Nordatlantik gewinnen.
Putins Russland schafft weiter Fakten. Und es zeigt dem Westen, dass es sich nicht nur in der Hochrüstung dank eigener Skrupellosigkeit deutliche Vorsprünge erarbeitet, sondern auch rings um Europa herum fast uneingeschränkt über Eskalationsdominanz verfügt.
Berlin fällt dazu nichts ein, außer mit den Trümmern seiner gescheiterten Russlandpolitik immer wieder neue Türmchen aufzubauen, die Putin dann umstoßen kann. Dass ein neuer Ansatz gegenüber dem Kreml dringend notwendig ist, hat sich hoffentlich als Erkenntnis durchgesetzt, wenn im Herbst die nächste Bundesregierung gebildet wird. Bis dahin kann Putin mit seinem Powerplay wohl ungestört weitermachen.