Rastermahnung

Kolumne | Direktnachricht

29
05
DPA/APA/PICTUREDESK.COM
29
05
DPA/APA/PICTUREDESK.COM

Rastermahnung

Kolumne | Direktnachricht

„Natürlich können wir insgesamt mehr Patienten behandeln, wenn wir pro Patient weniger Therapiestunden hätten. Man könnte auch viel mehr Häuser bauen, wenn man auf das Dach verzichten würde. So viel eingesparte Zeit!!! Und spart sogar Geld!!!!“

Was Verhaltenstherapeut @RobbiKoenig hier so sarkastisch kommentiert, ist ein ernst gemeinter Vorschlag aus dem Gesundheitsministerium namens Rasterpsychotherapie. Übersetzt: Therapie nach „Schema F“. Statt sie wie bisher individuell auf Patient_innenbedürfnisse abzustimmen, würde die Anzahl der Sitzungen anhand vorgegebener Raster zu Beginn festgelegt. Und wenn der Zeitrahmen nicht ausreicht? Pech gehabt! Jens Spahn will damit Kosten sparen. Fachverbände sehen darin zu Recht einen Eingriff in die Therapiehoheit und kritisieren die geplante Regelung aufs Schärfste. Über den Gesetzentwurf soll voraussichtlich Anfang Juni im Bundestag abgestimmt werden.

Im Schnitt muss man ein halbes Jahr bis zu neun Monaten auf einen Therapieplatz warten – vorausgesetzt, man hat die Hürde genommen, sich überhaupt einzugestehen, Hilfe zu benötigen. Dabei hat jeder dritte erwachsene Mensch im Lauf seines Lebens mit einer psychischen Erkrankung zu tun. Auch fast jedes dritte Kind zeigt aktuell Zeichen psychischer Belastung.

Dauerstress im Homeoffice plus Kinderbetreuung, Trauer um die Liebsten, endlose Einsamkeit, die Scherben der eigenen Existenz aufsammeln, Long Covid akzeptieren – die Liste psychischer Belastungen in Coronazeiten ist lang und zeigt: Was vorher bereits kein tragbarer Zustand war, hat sich – wie so vieles – noch einmal verschärft.

Die Psychologieprofessorin Christine Kirchhoff ergänzt: „Es zeigt sich schon jetzt, dass psychische Erkrankungen aufgrund der Coronapandemie zugenommen haben; ein Trend, der sich, so viel ist aus der Forschung bekannt, noch verstärken wird, wenn die ‚Normalität‘ zurückkehrt und das Gefühl abnimmt, sich zusammenreißen zu müssen.“

Das dicke Ende der psychischen Coronakrise steht uns also erst noch bevor. Wo sind die Pläne, um diesen absehbaren Bedarf aufzufangen? Wo sind die zusätzlichen Kassensitze für Therapeut_innen, um Warte- und damit unnötige Leidenszeiten zu vermeiden? Stattdessen werden mit dem Vorschlag der Rasterpsychotherapie psychisch Erkrankte und Therapeut_innen gezwungen, weitere Verschlechterungen bei der Versorgung bekämpfen zu müssen.

Was macht Jens Spahn eigentlich nochmal beruflich?

Weitere Artikel dieser Ausgabe