Im hilflosen Umgang mit Putins Russland offenbart sich: Die deutsche Außenpolitik ist erstarrt
Im hilflosen Umgang mit Putins Russland offenbart sich: Die deutsche Außenpolitik ist erstarrt
Es ist ein seltener Vorgang, dass Bundeskanzlerin und Außenminister sich gemeinsam an die Strafverfolgungsbehörden eines anderen Staates wenden. „Angesichts der herausgehobenen Rolle von Herrn Nawalny in der politischen Opposition in Russland sind die dortigen Behörden nun dringlich aufgerufen, diese Tat bis ins Letzte aufzuklären – und das in voller Transparenz“, hieß es am Montagabend in der Erklärung von Angela Merkel und Heiko Maas, nachdem Charité-Ärzte bestätigt hatten, der Anti-Korruptionskämpfer und Kreml-Kritiker Alexei Nawalny sei einem Giftanschlag zum Opfer gefallen war. „Die Verantwortlichen müssen ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden.“
Nun werden die Verantwortlichen für Mordanschläge, denen Gegner von Russlands Präsident Wladimir Putin seit bald zwei Jahrzehnten mit auffälliger Regelmäßigkeit zum Opfer fallen, durchaus ermittelt. Der frühere FSB-Geheimdienstler Alexander Litwinenko wurde 2006 in London mit hochradioaktivem Polonium vergiftet und starb einen qualvollen Tod. Die Täter: Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun, geschickt im staatlichen Auftrag, „wahrscheinlich mit Billigung“ Putins, so das Ergebnis der offiziellen Untersuchung von Sir Robert Owen 2016. Doch Moskau verweigert bis heute die Auslieferung; Lugowoi wurde gar ins russische Parlament, die Duma, gewählt, wo er noch heute sitzt. Auch wer den früheren Militärgeheimdienstler Andrei Skripal und seine Tochter in Salisbury mit dem geächteten Nervenkampfstoff Nowitschok 2018 fast umbrachte, ist kein Geheimnis: zwei Angehörige des russischen GRU.
So sollte die Botschaft von Merkel und Maas wohl heißen: Es reicht – was im Kreml allenfalls ein mattes Lächeln ausgelöst haben dürfte. Denn Putins Russland geht schon lange mit mörderischer Gewalt gegen Kritiker und Oppositionelle vor, ohne größere Konsequenzen fürchten zu müssen. In Moskau ist man geübt darin, die verfolgte Unschuld zu spielen und Zweifel zu säen. Wenn schon der permanente Propaganda- und Desinformationskrieg gegen Deutschland und seine Partnerländer, der Abschuss einer malaysischen Passagiermaschine über ukrainischem Gebiet mit fast 300 Toten 2014 oder ein großangelegter Hackerangriff auf den Deutschen Bundestag ein Jahr später letztlich ohne Folgen blieben, warum sollte dies im Fall Nawalny nun anders sein?
Und tatsächlich ist die Merkel-Maas-Stellungnahme letztlich eine Erklärung der Hilflosigkeit. Schaut man genauer hin, hat Deutschland gar keine Russlandpolitik mehr. Es gibt nur noch Versatzstücke, die kaum noch zusammenhängen beziehungsweise sich widersprechen. Sanktionen wegen der völkerrechtlichen Annexion der Krim hier, das europäischen Interessen zuwiderlaufende Gas-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 dort. Derweil hält sich in breiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit die Mär, man müsse nur mehr mit Putin und seinen Leuten reden und die angeblich so schädlichen Wirtschaftssanktionen aufheben, und alles wäre in schönster Ordnung.
Die Missverständnisse fangen schon dabei an, Putins Russland als „normales Land“ zu begreifen. Spätestens seit Ende der 1990er-Jahre ist Europas riesiger, militärisch bedrohlicher Nachbar eine Kleptokratie, die zudem an einem Weltmachtverlust-Komplex leidet. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich Putin unlängst per Verfassungsänderung die Möglichkeit einer Präsidentschaft auf Lebenszeit schuf: Das „System Putin“ ist nicht reformierbar, es kann sich nur immer weiter perpetuieren – und aggressiv gegen „Feinde“ vorgehen, nach innen wie nach außen.
Mit keinem anderen Staatschef der Welt hat Merkel in den vergangenen Jahren wohl öfter telefoniert als mit Putin. Mehr noch: Die russische Seite konnte sich zuletzt vor Gesprächsangeboten kaum retten. US-Präsident Donald Trump drängt darauf, Putin auf der Weltbühne zu rehabilitieren. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron lässt seit 2019 einen irregeleiteten „strategischen Dialog“ mit Moskau führen, der deutscherseits von eisigem Schweigen und seitens der mittel- und osteuropäischen Nachbarn von scharfer Kritik begleitet wird. Die EU robbte sich zuletzt auf eher unverfänglichen Themenfeldern wie Klima und Umwelt an Russland heran, aber auch dort: kein Interesse an einer Zusammenarbeit.
So setzt sich die Ratlosigkeit fort. Das Verhältnis soll sich nicht weiter verschlechtern, dafür tritt man nicht allzu laut für die eigenen Werte und Interessen ein. Ähnlich verhält es sich mit Belarus und Alexander Lukaschenka, dessen Wahlfälschungen noch plumper als die russischen sind. Da sich Lukaschenka den großen Bruder aus Moskau in den vergangenen Jahren mit einer Schaukelpolitik vom Leib zu halten versucht hat, ist Putins Linie bislang ein wenig zögerlich; doch ist klar, dass Moskau das Nachbarland nicht aus der für sich selbst beanspruchten „Einflusszone“ („nahes Ausland“) entlassen wird. Berlin dagegen steht natürlich auf der Seite der demokratischen Opposition, die „Europas letzten Diktator“ endlich loswerden will. In dieser Situation aber noch klarer Partei beziehen? Das dann lieber nicht.
Und es ist längst nicht nur die Russland-Politik. Auch wenn es um den Umgang mit China geht, ist die deutsche Außenpolitik in ähnlicher Weise erstarrt. Entweder gelingt Merkel noch der große Wurf einer „europäischen Lösung“, will sagen: eines von allen EU-Mitgliedstaaten getragenen, neuen und kritischeren Politikansatzes gegenüber Xi Jinpings immer rücksichtsloser aufstrebenden Weltmacht samt seiner parteigesteuerten Unternehmen wie Huawei. Oder aber die deutsche Politik zerbröselt zwischen dem berechtigten, sich in der Causa Huawei und dessen Beteiligung am 5G-Mobilnetz formierenden parlamentarischen Widerstand und dem Beharrungswillen einer „Wirtschaftsbeziehungen um jeden Preis“-Politik.
Und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten? „Wir sind aufgewachsen in der Gewissheit, dass die USA Weltmacht sein wollen“, sagte Merkel der Süddeutschen Zeitung im Juni. „Wenn sich die USA nun aus freiem Willen aus der Rolle verabschieden sollten, müssten wir sehr grundsätzlich nachdenken.“ Mit solchem „grundsätzlichen Nachdenken“ kann die deutsche Außenpolitik gar nicht früh genug beginnen.