Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Angst und Gier sind Kurstreiber an den Börsen. Derzeit ist viel von Gier die Rede. Mitten in der Coronakrise bewegen sich die Aktienkurse seit Wochen wieder auf Rekordniveau. Es gibt sogar einen Index, der die Gemütslage der Investoren misst: Der „Angst-und-Gier-Index“ des Nachrichtensenders CNN. In Phasen der Gier steigen die Kurse, in denen der Angst dagegen fallen sie. Gemessen an diesem Index sind die Anleger derzeit besonders gierig.
Gier – eine der sieben Todsünden – gilt nicht nur als allgemein verwerflich, sie ist auch niemandem geheuer. Laut wird deshalb seit längerem vor ihr gewarnt. Im Börsenjargon klingt das so: Die Aktien seien nicht mehr marktgerecht bewertet, die Kursentwicklung habe sich von der Realität entkoppelt, weil zu viel Gier die Hausse nähre. So kann man es sehen, doch was sagt uns das?
Genaugenommen nichts. Erstens sind Aktien stets marktgerecht bewertet, denn die Papiere werden schließlich am Markt gehandelt, wo sich aus Abermillionen Käufen und Verkäufen der Preis ergibt. Und von der Realität können sich die Kurse zweitens nicht entkoppeln, denn auch der Aktienmarkt mit all seinen verschiedenen Einflussfaktoren ist real, nicht irreal. Allenfalls könnte man behaupten, die Aktienkurse hätten derzeit ein Niveau erreicht, das deutlich über einer an der Realwirtschaft orientierten Bewertung liege. Nur, woran genau bemäße die sich dann?
Wenn in der Welt die Zeichen auf Krise stehen und der Wachstumstrend versiegt, müssten eigentlich auch die Kurse fallen. Denn Unternehmen verdienen dann nicht mehr so gut. Hinter diesem vermuteten Grundzusammenhang, nach dem Börsenentwicklungen immer beurteilt werden, verbirgt sich allerdings ein sehr mechanistisches Verständnis der Aktienmarktentwicklung, das schon vor Jahrzehnten seine Gültigkeit teilweise verloren hat. Es gab und gibt immer wieder Phasen, in denen die Wirtschaft schrumpft, die Kurse aber steigen und umgekehrt.
Und was ist mit der Gier? Auch die kann man derzeit getrost in Zweifel ziehen. Es ist vor allem Kalkül, das die Kurse treibt. In Phasen hoher Liquidität und Minuszinsen gibt es kaum Alternativen, sein Geld werterhaltend anzulegen. Dazu gesellt sich die Hoffnung auf ein Ende der Pandemie durch neue Impfstoffe sowie auf einen politischen und wirtschaftlichen Neubeginn in den Vereinigten Staaten. Selten war die starke Nachfrage nach Aktien transparenter. Natürlich werden die Kurse auch wieder fallen. Nur wann – das weiß derzeit wohl niemand. Der Angst-und-Gier-Index ist dabei wenig hilfreich. Doch wenn es so weit ist, werden die Crash-Propheten wieder einmal behaupten, sie hätten alles kommen sehen, es sei die Gier gewesen.