Zum zweiten Mal übernimmt die Kanzlerin den Ratsvorsitz der EU. Was hat sie noch vor?
Zum zweiten Mal übernimmt die Kanzlerin den Ratsvorsitz der EU. Was hat sie noch vor?
Es ist eine Seltenheit, eigentlich eine Unmöglichkeit, die der deutschen Kanzlerin widerfährt, wenn sie am 1. Juli mit Deutschland den Ratsvorsitz der Europäischen Union antritt: Zum zweiten Mal übernimmt Angela Merkel dieses Amt. Dreizehn Jahre liegen in Europa zwischen zwei Präsidentschaften, so lange hält kaum eine Regierung durch. Und wie beim vorigen Mal, 2007, sind die Erwartungen an die Kanzlerin und ihr Land hoch.
Das ist im Fall Deutschlands immer so. 2007 standen Reparaturarbeiten an. Die europäische Verfassung war an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Es war der deutschen Regierung, Merkel selbst und vor allem ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu verdanken, dass wenigstens der substantielle Kern der Verfassung in den späteren Vertrag von Lissabon gerettet werden konnte. Und die Klimakanzlerin wurde geboren: Merkel hievte das Thema auf die europäische Tagesordnung, und sie bescherte uns das Verbot herkömmlicher Glühbirnen.
Nach dem Ende der Präsidentschaft war freilich zu beobachten, wie das deutsche Engagement rapide in sich zusammenfiel. Irgendein europapolitisches Konzept wurde in Berlin nie entwickelt, man „fuhr auf Sicht“, gerade in der Finanzkrise, und das hieß auch, dass die Fahrt manchmal in Sackgassen führte. Die deutsche Energiepolitik folgte ihren erratischen Schwankungen ohne Absprachen mit unseren Partnern, geschweige denn mit irgendeiner Rücksichtnahme. In der Klimapolitik staunte Europa über einen ziemlich rüden, noch dazu plumpen deutschen Lobbyismus zugunsten von mehr und nicht weniger Luftverschmutzung. Und Solidarität in der Migrationspolitik entdeckte Berlin erst, als die Flüchtlinge zahlreich in Deutschland ankamen.
Die Präsidentschaft 2007, so zeigte sich im Nachhinein, war für die Kanzlerin vor allem eine Gelegenheit, mit europäischem Prestige innenpolitisch zu punkten.
Und diesmal? Es fehlt nicht an großen Ankündigungen: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ – das soll die Überschrift der deutschen Präsidentschaft sein (was implizit darauf hinweist, wie schwach es inzwischen geworden ist). Es fehlt nicht an Baustellen: Die Bewältigung der Coronafolgen, der Brexit, der EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre – das wäre Stoff für drei Präsidentschaften. Damit nicht genug: Klimaschutz, Digitalisierung sowie der Schutz der demokratischen Ordnung und des Rechtsstaates sollen die Schwerpunkte der Präsidentschaft bilden.
Wobei auffällt, dass Merkel damit in Europa Probleme angehen will, die sie durch Tun oder Nichtstun selbst mit herbeigeführt hat. Digitalisierung ist heute in der EU vor allem ein deutsches Problem. Mit ihren Funklöchern und schwachen Internetverbindungen zählt die deutsche Infrastruktur zu den schwächsten in Europa. Beim Klimaschutz kann Berlin nach seinem fragwürdigen Einsatz für die deutschen Autohersteller, auch mit seiner Kohlepolitik sehr viel weniger glaubwürdig auftreten als vor 13 Jahren.
Und der Schutz von Rechtsstaat und Demokratie? Es war die Kanzlerin, ihre Partei, die CDU und deren Schwester, die CSU, die ihre schützende Hand über Viktor Orbán hielten, seit der begann, Demokratie und Rechtsstaat in Ungarn systematisch auszuhöhlen. Das schlechte Beispiel konnte so Schule machen, in Polen und anderswo: Etwa ein Drittel der EU-Mitgliedstaaten ist heute nur noch eingeschränkt als Rechtsstaat zu bezeichnen. In einer Gemeinschaft, die sich auf nichts anderes gründet als auf gemeinsames Recht, ist das keine Kleinigkeit.
Ihren stärksten Trumpf hat Merkel schon vor Beginn der Präsidentschaft ausgespielt, gezwungenermaßen: Es war ja wirklich nicht ihr Wunsch, dass sich die EU nun verschuldet (was ihr vertraglich eigentlich verboten ist) und dass gigantische Finanztransfers zugunsten hochverschuldeter Staaten stattfinden. Noch vor einem Jahr hätte Deutschland dies strikt abgelehnt. Es war der Wunsch Macrons, vor dem sie einknickte, als sich die Stimmung in Südeuropa immer stärker gegen Deutschland aufbaute. Eher wurde sie getrieben, als dass sie von sich aus die Initiative ergriffen hätte.
Es rächt sich, dass Berlin kein europapolitisches Konzept hat. Oder kann irgendjemand sagen, wohin Deutschland die EU entwickeln will? Das zentrale und wichtigste Mitgliedsland der EU versagt damit seinen Partnern wichtige Orientierung, es schwächt seine eigene Position, und es schwächt Europa. Man mag sich vielleicht eine Sekunde lang vorstellen, was Deutschland zugunsten der EU hätte heraushandeln können, wenn es zu solchen Finanzbeiträgen wie jetzt nicht unter Druck, sondern im Zuge eines Verhandlungsprozesses bereit gewesen wäre.
Etwa in der Außenpolitik. Mag ja sein, dass die Bundeskanzlerin jetzt mit China robuster reden will. Tatsache ist, dass die EU seit etwa vier Jahren keine China-kritische Entscheidung mehr treffen konnte, weil einzelne Länder die notwendige Einstimmigkeit verhindert haben, mal Griechenland, mal Ungarn, mal Tschechien. Und auch Berlin allein traut sich nicht, ein regierungsnahes chinesisches Unternehmen wie Huawei von der hochsensiblen künftigen Mobilfunk-Infrastruktur fernzuhalten. Umgekehrt wäre es undenkbar, dass China ein europäisches Unternehmen hier beteiligen würde.
Man darf von der deutschen Präsidentschaft nicht erwarten, dass sie solche Probleme löst. Das kann sie nicht. Merkels Stärke ist Krisenmanagement und die Fähigkeit, auseinanderstrebende Verhandlungspartner zusammenzuführen. Damit wird sie genug zu tun haben. Noch ist ja längst nicht gesichert, dass wirklich jene, die von Corona am stärksten betroffen sind, von den gigantischen EU-Hilfen profitieren und nicht jene, die in der Vergangenheit jegliche Reformen gescheut haben. Aber an einem Europa zu arbeiten, das den geopolitischen Herausforderungen gerecht wird und damit auch den deutschen Interessen dient – das darf man wohl erst wieder von ihren Nachfolgern erhoffen.