Rom erobern

Postskriptum

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Rom erobern

Postskriptum

Wie Fußball-Sammelbildhefte kann man in diesen Tagen die ganzseitigen Übersichten des neuen Kabinetts in den Zeitungen betrachten. Jeweils eine briefmarkengroße Aufnahme und einige biografische Daten, frühere Vereine (Posten) und Positionen (weniger inhaltlich als im Gefüge der jeweiligen Partei). Die SPD überrascht mit einer Innenministerin (Nancy Faeser), mit der kaum jemand gerechnet haben dürfte, für die Grünen übernimmt Anne Spiegel das Familienministerium, das sie bisher in Rheinland-Pfalz anführte, und die FDP erfüllt ihre 25-prozentige Frauenquote mit Bettina Stark-Watzinger, die für Bildung und Forschung zuständig sein wird. Ein geringer Bekanntheitsgrad muss nicht gegen sie sprechen – das schönste Beispiel für steile Karrierewege bleibt Barack Obama, der vier Jahre, bevor er Präsident wurde, noch Landtagsabgeordneter in Illinois war.

Die Klage über das fehlende Charisma des politischen Spitzenpersonals in Deutschland ist sehr viel älter als Joschka Fischers dickbackiger Spruch: „Ich war einer der letzten Live-Rock-’n’-Roller der deutschen Politik.“ Jetzt komme in allen Parteien „die Playback-Generation“. Und spätestens, nachdem auf Obama ein gewisser Donald Trump folgte, hat auch die amerikanische Neigung zu auffälligeren Persönlichkeiten einen Zug ins Dunkle bekommen.

Tatsächlich würden selbst die Anhänger Angela Merkels und Olaf Scholz’ diese nicht für funkelnde Persönlichkeiten halten. Kurt Kister schrieb diese Woche in der Süddeutschen Zeitung so trefflich über den Augenblick, in dem zuletzt eine neue Regierung nach 16 Jahren Kanzlerschaft antrat: „Als Gerhard Schröder nach seiner Wahl 1998 ins Kanzleramt einzog, streiften manche der Neuen durch die Flure wie gewaltfreie Barbaren, die trotzdem gerade Rom erobert hatten und darüber selbst erstaunt waren.“ Dergleichen dürfte von Klara Geywitz (SPD, Bauen), Cem Özdemir (Grüne, Landwirtschaft) und Volker Wissing (FDP, Verkehr) kaum zu erwarten sein. Die vermeintlichen Schwergewichte der Liberalen und der Grünen stellte der Publizist Till Raether dann sogar schon unter akuten Kitschverdacht, Meister der verbalen – Brücken über Trennendes ausloten! – und optischen Sprühsahne: „Lindner mit dem schwarz-weißen BWL-Schmelz nächtlicher Schreibtisch-Sessions im Halbdunkel; Habeck barfuß am Meer wie ein Schlagersänger, der ein Shanty-Album bewirbt.“

In harmloseren Zeiten – falls es diese denn jemals gegeben haben sollte – hätten die allgegenwärtigen Klagen über mangelnde Ausstrahlung, Profillosigkeit und Aalglätte der gegenwärtigen Politikgeneration unter folkloristisch bis wohlfeil – oder einfach als zeitgemäß – verbucht werden können.

Marco Bitschnau hat sich in der Dezember-Ausgabe des Merkur um eine angenehm nüchterne Rehabilitierung der allzu oft gescholtenen Politikertypen bemüht: „Wer allerdings meint, Laschet, Scholz und Baerbock oder die Spitzenkandidaten der übrigen Parteien müssten Übermenschen sein, die in ihrer Person strategischen Weitblick, funkensprühendes Charisma und überragende Sachkenntnis vereinen, geht nicht nur fehl, sondern hätte mit einem Brandt oder Adenauer auch nicht viel anzufangen gewusst.“ Bitschau rät zur Regulierung des Erwartungshaushaltes und der Heilsuche in der „politischen Verfallsform magischen Denkens“. Wohl gesprochen. Allein, harmlos ist die Lage nicht, der Problemdruck angesichts der Pandemie heute und des Klimawandels nicht erst morgen zu groß, als dass er mit dem eingeübten und oft bewährten Austarieren und Abmoderieren von Konflikten gelöst werden könnte.

Klar, die Schwierigkeit in beiden Fällen hängt damit zusammen, dass bei aller Politisierung die Seuche und steigenden Temperaturen nicht in die altbekannten Raster für politische Problemlösung fallen. Ein erheblicher Anteil der Bevölkerung, deren Mitwirkung essenziell ist, lehnt, wenn nicht die Sachlage, so doch die notwendigen Schritte, die Abhilfe versprechen, ab.

Die Widerstände mögen größer sein, als dass flammende Ansprachen à la Emmanuel Macron in Frankreich etwas dagegen bewirken könnten. Aber wenn schon nicht auf Weitblick, Charisma und Sachkenntnis, wäre dann nicht jenseits des magischen Denkens auf so etwas wie Mut zu hoffen? Den aufzubringen wäre nicht allein um des hehren Motivs willen zu empfehlen, sondern ob der politischen Prämie, mit der diejenigen rechnen könnten, die es wagten, sich erst einmal unbeliebt zu machen, aber schließlich erfolgreich sein werden. Die nicht weiter wohlgefällig Playback betrieben, sondern von ihrem eigenen Blatt sängen.

Ob man ihn nun für eine Nervensäge oder einen Superstar hält, die Zentralgestalt des neuen Kabinetts kann so gesehen nur Karl Lauterbach sein.

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