Editorial des Verlegers
Editorial des Verlegers
Liebe Leserinnen und Leser,
auch in Kriegszeiten in Europa sollten vermeintlich normale Landtagswahlen in Deutschland nicht als Nebensache abgetan werden. Wahlen sind und bleiben das Hochamt der Demokratie, die Bestätigung oder Abwahl einer Regierung ist ein Wesenselement der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Eckhard Jesse, einer der eminenten Parteienforscher Deutschlands, sortiert und ordnet in dieser Ausgabe des Hauptstadtbriefs die Lage nach den Wahlen in Schleswig-Holstein und vor denen in Nordrhein-Westfalen ein. So neu sind schwarz-grüne Regierungen in den Ländern nicht, aber nach drei vergeblichen Anläufen im Bund schien die ökobürgerliche Liaison etwas verbraucht. Erlebt sie jetzt ein Wiederaufblühen im größten Bundesland? Mit Implikationen für Berlin?
Christoph Butterwegge gebührt in der Debatte über den Sozialstaat in Deutschland der Titel des national treasure, wie es die Amerikaner so schön sagen. Butterwegges unermüdliche materialreiche Analysen, Interventionen und konkrete politische Empfehlungen sind so wertvoll wie notwendig, das Land wäre ärmer ohne sie. In dieser Ausgabe skizziert Butterwegge, wie die sozialstaatlichen Nachwirkungen der Pandemie klug und gerecht ausgeglichen werden sollten, zum Wohle nicht nur der bedürftig Gewordenen, sondern auch der Volkswirtschaft.
Günter Bannas stellt, nicht ohne geopolitisch gewichtige Untertöne, in seiner Kolumne Aus dem Bannaskreis fest, dass Annalena Baerbock und Robert Habeck nicht erst seit dem 24. Februar über Wladimir Putin und Nord Stream 2 treffend und ohne Illusionen gesprochen und gedacht haben – und dafür damals von politischen Kontrahenten und in so manchen schlecht gealterten Leitartikeln scharfe Kritik bis zu Häme aushalten mussten. Angesichts der prekären Lage dürften sich die Außenministerin und der Wirtschaftsminister nur sehr bedingt freuen. Aber Teil des nicht zu vernachlässigenden und notwendigen soul searching sollte die Rückschau doch sein.
Anne Wizorek schreibt in ihrer Direktnachricht über die der Öffentlichkeit vorab zugespielte Urteilsbegründung, mit der eine Mehrheit des amerikanischen Supreme Courts das Recht auf Abtreibung de facto abzuschaffen gedenkt. Die religiöse Rechte – ein irreführender Begriff, dient die religiöse Rhetorik doch kaum mehr als der Ummantelung eines radikalen Programms – hat seit Jahrzehnten auf den Tag gewartet, das bisher maßgebliche Urteil Roe v. Wade aufzuheben. Dank Donald Trump konnten drei neue Mitglieder des Gerichts berufen werden, die nun zum großen gesellschaftspolitischen roll back ansetzten. Wizorek zeigt eindringlich, welche zivilgesellschaftlichen Errungenschaften als Nächstes gekippt werden könnten – ein denkwürdiger Beitrag.
Im Postskriptum erinnert Lutz Lichtenberger an einige kluge Beobachtungen Saul Friedländers, die vierzig Jahre später bedauerlicherweise wieder so relevant wie ehedem erscheinen.
Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich bis zur nächsten Woche
Ihr Detlef Prinz