Schattenmann, strahlend

Übermorgen, morgen oder schon heute? Hendrik Wüst schickt sich an, Kanzlerkandidat der Union zu werden. Ein Portrait

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PICTURE ALLIANCE/NURPHOTO/YING TANG/HSB
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Schattenmann, strahlend

Übermorgen, morgen oder schon heute? Hendrik Wüst schickt sich an, Kanzlerkandidat der Union zu werden. Ein Portrait

Hendrik Wüst riecht, wenn etwas heikel werden könnte: „Ich glaube, es würde im Zweifelsfall auch eher stören als helfen“, sagt er im sonoren Tonfall mit den für ihn fast schon charakteristischen Pausen zwischen den einzelnen Worten, „ich bin häufiger auch in der Region gewesen. In Lützerath war ich jetzt in dieser Zeit nicht mehr.“ Es ist ruhig in der Düsseldorfer Staatskanzlei. Sogar die Umbauarbeiten wurden für dieses Radiointerview unterbrochen. Wüst, im gewohnt dunkelblauen, schmalgeschnitten Anzug, weißen Hemd, mit Hornbrille und seit September 2021 Ministerpräsident im bevölkerungsreichsten Bundesland, sitzt an seinem Besprechungstisch. Es ist Mitte Januar. Seit drei Tagen übertragen TV-Anstalten bundesweit die Räumungsarbeiten im Rheinischen Revier. Schwarzgekleidete, vermummte Polizisten tragen junge, bunte Demonstranten aus dem alten Bauernhof. Der kleine Weiler soll dem Braunkohletagebau Garzweiler II weichen – trotz des früheren Kohleausstiegs. Für die weltweite Klimabewegung wird Lützerath zum Kampfplatz, selbst die schwedische Aktivistin Greta Thunberg kommt vorbei. Der Ministerpräsident aber lässt sich nicht blicken. Er sitzt, vor sich eine Tasse Kaffee und eine schwarze Besprechungsmappe, hinter sich die drei Flaggen der Europäischen Union, Deutschlands und Nordrhein-Westfalens, rund 50 Kilometer entfernt – und pariert Nachfragen: „Ich glaube, da gibt es eine Polizeiführung vor Ort“, lässt Wüst auch eine weitere abperlen, „wenn der Ministerpräsident da herumläuft, hilft das niemanden der Beteiligten bei seiner Arbeit.“ Es ist der größte Polizeieinsatz in der Geschichte des Landes, mehr als 600 Verfahren wird die Polizei später einleiten. Für viele ist Lützerath – ähnlich wie einst der Hambacher Forst – zum symbolischen Ort des Kampfes gegen den Klimawandel geworden. „Dass es ein Symbol ist für einige, das nehme ich zur Kenntnis“, erwidert Wüst darauf, „das kann es ja unbeschadet meiner Anwesenheit auch sein.“

Wüst, der ansonsten auch kurzfristig oft Zeit für Besuche und Empfänge findet, weiß genau, dass ein Politiker in solchen Lagen nichts gewinnen kann: Er lässt das Thema bei seinem grünen Koalitionspartner, dessen Wirtschaftsministerin Mona Neubaur sowie der Ampel-Koalition in Berlin – und blockt auch die vierte Nachfrage nach seinem Besuch vor Ort lächelnd ab: „Ich habe auch eher den Eindruck, dass ich da nicht sonderlich viel helfen kann.“ Antworten, ohne etwas zu sagen. Das kann Wüst. Er lässt sich nicht locken, weiß um die Dynamiken, die entstehen können, wenn sich einzelne Sätze, mitunter Worte oder eben, noch schlimmer, Fotos und Videos, verselbständigen. Sein Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, Armin Laschet, war immer wieder mit missverständlichen Aussagen aufgefallen, stolperte als CDU-Kanzlerkandidat über ein falsches Lachen im Wahlkampf und gab dann auch noch seinen Stimmzettel am Wahltag öffentlich einsehbar ab. Fehler, die Wüst nicht passieren würden.

Zwar erst 47 Jahre alt, ist Wüst ein politischer Profi: Mit 15 Jahren und unter dem Eindruck des Mauerfalls im Jahr 1989 belebte er zusammen mit Freunden in seiner Heimatstadt Rhede im Münsterland die Junge Union (JU). Parallel zu seinem Jurastudium im benachbarten Münster zog er in den Stadtrat ein, machte in der JU weiter Karriere: Vom Landesschatzmeister stieg er zum Chef des mächtigen NRW-Landesverbandes auf, bildete dort rasch mit dem späteren (und bereits im Jahr 2015 verstorbenen) JU-Bundesvorsitzenden Philipp Mißfelder ein mächtiges Duo. Wüst schaffte es sogar bis in den CDU-Bundesvorstand, doch dann stockte seine Karriere: Der Kampf um einen Platz für das Europäische Parlament ging parteiintern verloren, im heimischen Kreis Borken zog ein gewisser Jens Spahn überraschend in den Bundestag ein. Wüst musste sich arrangieren, traf mit dem vier Jahre jüngeren und ebenfalls ehrgeizigen Spahn eine Vereinbarung: Er das Land, Spahn im Bund. So schaffte er dann den Sprung in den Landtag, zog sich aber aus dem CDU-Bundesvorstand zurück und überließ Spahn auch den CDU-Kreisvorsitz in Borken. Für seine Karriere war dies aber kein Rückschritt: Jürgen Rüttgers, der Wüst bereits aus seiner JU-Zeit kannte, machte ihn nach seinem historischen Wahlsieg zum Generalsekretär. Nach Jahrzehnten sozialdemokratischer Regierungen an Rhein und Ruhr wollte die CDU nun eine neue Ära einläuten. Das Kalkül: Rüttgers sollte als Landesvater wirken. Als Gegensatz dazu fungierte ein junger, schneidiger Generalsekretär. Wüst ging in der Rolle auf – und unter: Als im Wahljahr 2010 Unterlagen durchgestochen wurden, nach denen Firmen Besuche des Ministerpräsidenten an ihren Parteitagsständen buchen konnten („Rent-a-Rüttgers“), musste Wüst zurücktreten. Zu Recht, sagen die einen, für andere war Wüst das Bauernopfer.

Foto: picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Kinder, wohin soll das noch führen? Hendrik Wüst, nebst Ehefrau Katharina, sieht nach dem rechten.



Die NRW-CDU verlor dennoch die Wahl, und Wüst war der Sündenbock. Zwei Jahre später ließ ihn die Partei bei den Vorstandswahlen durchfallen. Der Tiefpunkt. Wenig später starb auch Wüsts Vater, nach dem frühen Verlust der Mutter ein weiterer privater Schicksalsschlag. Privat und politisch wurde es einsam – und der einstige Senkrechtstarter stand vor der Frage: Wie weiter? Als Rechtsanwalt hatte er bereits Berufserfahrung bei einer Unternehmensberatung; nach der Zeit als Generalsekretär wurde Wüst Geschäftsführer des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger. Er achtete aber immer darauf, sein Landtagsmandat behalten zu können, und übernahm 2013 den Landesvorsitz der NRW-Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT). Vier Jahre später machte ihn Laschet nach seinem Wahlsieg überraschend zum Verkehrsminister in NRW.

Wüst war zurück und schaffte wenig später sein Meisterstück: Weil Laschet aufgrund der Kanzlerkandidatur als Ministerpräsident zurücktrat, wurde Wüst sein Nachfolger. Obwohl ihn erhebliche Teile der Partei ablehnten, half ihm eine bundesweit einzigartige Konstellation: Laut Landesverfassung muss der Ministerpräsident Mitglied des Landtags sein. Die Auswahl war somit klein. Wüst setze sich durch. Er profilierte sich bundesweit als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, gewann gut ein halbes Jahr später auch die Landtagswahl und bildete – erstmals im großen Industrieland NRW – ein schwarz-grünes Bündnis. „Wir machen Nordrhein-Westfalen zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas“, steht vollmundig im Koalitionsvertrag.

Doch der Aufbruch ist längst – in Folge des Kriegs gegen die Ukraine mit Gasknappheit und drastischen Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel – einer Katerstimmung gewichen. Wüst lässt sich davon aber nicht beirren, flutet stattdessen das Land (und die sozialen Netzwerke) mit schönen Fotos: Sei es vom Papstbesuch, mit dem eigenen Kinderwagen oder in sozialen Einrichtungen. „Insta-Präsident“, warf ihm der scheidende SPD-Oppositionsführer in NRW, Thomas Kutschaty, dafür an den Kopf. Wüst lächelte auch das weg. Wer langjährige Mitstreiter, Weggefährten, aber auch Gegner nach dem politischen Überzeugungskern fragt, erzeugt oft eine längere Pause. Gutes Regieren, lautet danach die Antwort. Das sieht Wüst wohl ähnlich. Wie bei der Frage nach dem Abschaltbeschluss des Bundeskanzlers für die letzten Atomkraftwerke, die in diesem Monat vom Netz gehen sollen: „Das nehme ich zur Kenntnis. Ob ich die aufmache oder nicht, es ist ja nun mal beschlossen“, sagt Wüst, „ich bin ja Regierungschef und schreibe keine Besinnungsaufsätze.“

Foto: picture alliance/SvenSimon | Malte Ossowski

In ihrem Bunde in der Mitte: Die K-Fragen-Kandidaten Friedrich Merz, Hendrik Wüst und Markus Söder


Der Jüngste in der Riege der 16 Länderchefs erscheint nun wie der Prototyp einer Politikergeneration: Inhaltlich flexibel, kontrolliert und fotogen lassen sich die unberechenbaren Social-Media-Wellen wohl am ehesten kontrollieren. Längst gibt es Stimmen, die Wüst zu Höherem berufen sehen: „Der Unverwüstliche“, dichtete das Portal t-online, das Nachrichtenmagazin Focus taufte ihn „Der Übermorgen-Mann“. Denn: Hinter den beiden Union-Parteichefs Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU) tut sich ein Vakuum auf. Als NRW-Ministerpräsident sowie Chef des Landesverbandes dort gehört Wüst automatisch zur Kanzlerreserve der Union. Zumal er nicht nur altersmäßig ein Gegenentwurf zum 67-jährigen Merz darstellt. Und anders als Daniel Günther aus Schleswig-Holstein ist Wüst auch eine ideale Projektionsfläche für die mittlerweile breite Unionsbasis: Aus seiner JU-Zeit und als NRW-Generalsekretär wird ihm ein konservatives Profil nachgesagt, in den Zwischenjahren als MIT-Vorsitzender sammelte er Punkte bei der Wirtschaft, und als NRW-Ministerpräsident fällt der gläubige Katholik nun vor allem mit Terminen bei Kindestagesstätten, Flüchtlingsunterkünften oder Tafeln auf. Konservativ, liberal, christlich-sozial: Wüst bedient die drei Wurzeln der Union. Doch Wüst kennt auch die Unwägbarkeiten des politischen Geschäfts. Er weiß um die Vormachtstellung von Merz, er kennt den Machthunger Markus Söders – und das Schicksal seines Vorgängers Laschet. Aber: Anders als diese drei hat Wüst noch Zeit – und die Gabe, seinen politischen Ehrgeiz zu verstecken.

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