Keine Zeit für 100 Tage: Porträt des Kanzlers vor seiner Epoche
Keine Zeit für 100 Tage: Porträt des Kanzlers vor seiner Epoche
Dass er Kanzler kann, weiß Olaf Scholz schon sehr lange. Anfangs hatte er dieses Wissen exklusiv, später war er in der falschen Partei. Manchmal wollten die Wähler es anders, gelegentlich zogen andere Kandidaten an ihm vorbei. Es hat ihn nicht irritiert. Seine Fähigkeit, Niederlagen unbeeindruckt wegzustecken, wird den Sozialdemokraten wohl ins Kanzleramt tragen. Endlich, mag er seufzen.
Was kann Olaf Scholz? Aus gutem Grund gibt es die ungeschriebene Regel, einer neuen Regierung 100 Tage Zeit zu geben, bevor man sie kritisiert. Die Neuen sollen sich einarbeiten können. Das ist nur fair.
Doch ist Scholz wirklich ein Neuer? In der Bundespolitik ist er seit der Jahrtausendwende inventarisiert, als Arbeits- und als Finanzminister hatte er im ersten und im letzten Kabinett Merkel Schlüsselpositionen inne. Zwischendurch war er Erster Bürgermeister in Hamburg, er baute die Elbphilharmonie fertig. Wenn einer im neuen Kabinett weiß, wie Regieren geht, ist er es.
Mit diesem Selbstbewusstsein hat er in einer für die SPD aussichtslosen Lage seinen Weg an die Spitze vorbereitet: Wenn den Leuten erst einmal klar werde, dass die Kanzlerin wirklich nicht mehr wiedergewählt werden kann, werde der Amtsbonus auf ihn übergehen, erzählte Scholz jedem, der es wissen wollte – auch und gerade, nachdem er mit seinem Anlauf auf den Parteivorsitz gescheitert war. Und schon, bevor er im Sommer 2020 überhaupt zum Kandidaten gemacht wurde (weil es sonst niemand machen wollte).
Das Merkelhafte liegt ihm: Wie die Kanzlerin ist auch Scholz keiner, dem man seinen Ehrgeiz ansieht. Wie sie moderiert er lieber, als sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Wenn er im Jahr 2011 sagt: „Wenn man bei mir Führung bestellt, bekommt man sie auch“, versteckt er sich heute hinter Formulierungen wie: „Die Regierung als Ganzes hat eine Führungsaufgabe.“ Wie das genau aussehen soll, bleibt wie bei Merkel offen.
In seinem Wohnort Potsdam staunte man in den vergangenen Monaten, dass die Joggingstrecken, die der bisherige Finanzminister in den Parks der Stadt zurücklegt, offenbar länger werden. Scholz arbeitete an seiner Ausdauer. Auf Partys und Stehempfängen sah man ihn nicht mehr den üblichen Weißwein trinken, sondern Mineralwasser. Er trainierte Pfunde ab, verlor die rundlich-harmlose Statur des ewigen Zweiten, das Schlumpfige.
Stattdessen wuchs ihm während der Sondierungs- und Koalitionsgespräche das geheimnisumwitterte „Wunder von Bern“-Charisma zu: Zur Halbzeit glanzlos zwei zu null zurückliegen, doch am Ende als Sieger vom Platz gehen. Der Titelgewinn macht die Aura.
Mag sich die neue Koalition auch noch so sehr bei Willy Brandt anlehnen („Mehr Fortschritt wagen“), das eigentliche Rollenmuster für Scholz gibt Helmut Schmidt vor. Norddeutsch, visionslos, pflichtbewusst. Nur Olaf Scholz kann darin den „Giganten“ erkennen, wie er den Kanzler der 1970er-Jahre nach dessen Tod lobte.
Es gibt ein Problem mit dieser Haltung: Der Koalitionsvertrag passt nicht dazu. Statt dem getreulichen Abarbeiten der Probleme, die auf dem Tisch liegen, verspricht die Vereinbarung der drei künftigen Regierungsparteien die große Transformation, den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zur Klimaneutralität. Dafür aber muss der künftige Kanzler die Wähler gewinnen, wenn er ein Scheitern seiner Partei nach dem Muster der „Agenda 2010“ Gerhard Schröders vermeiden will. Der frühere Kanzler hatte zu Beginn des Jahrtausends die nötigen Sozialreformen in einem Kraftakt durchgepaukt. Deutschland, zuvor „der kranke Mann Europas“ stieg danach zwar wieder zu einer führenden Wirtschaftsmacht auf. Doch die SPD zerbrach daran, bis heute sind die Wunden nicht verheilt.
So ist es nicht nur ein später Tribut an die Sozialdemokraten, wenn an die Stelle von „Hartz IV“ nun das „Bürgergeld“ treten soll. Es ist auch die Mahnung an den künftigen Kanzler, Mehrheiten für die Klimareformen zu organisieren – auch in der eigenen Partei, die ihm noch vor kurzem die Führungsrolle verweigert hat.
Ein leidenschaftlicher Redner muss er dafür nicht werden. Es geht auch ohne, das hat ihm Angela Merkel gezeigt. Doch er muss inhaltlich Positionen beziehen. Bisher hat er das vermieden und sich auch damit die Kanzlerin zum Vorbild genommen. Scholz war für und gegen die Agenda 2010, er war für und gegen schwarze Null und Schuldenbremse, er war für und gegen harte Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Für und gegen Klimapolitik aber kann er nicht mehr sein.
Und: Mit Robert Habeck und Christian Lindner hat er nicht nur zwei Koalitionspartner, sondern auch zwei Wettbewerber, die sich viel auf ihr Redetalent, ihren Intellekt und ihre öffentliche Wirkung zugutehalten. Will Scholz Scholz bleiben, muss der gelernte Arbeitsrechtler ihnen die Schau stehlen, indem er sich als ehrlicher Anwalt präsentiert, wo die anderen blumige Girlanden flechten.
Vorerst wird ihm die Corona-Pandemie aus der Bredouille helfen. Niemand verlangt jetzt nach Goethe oder Hölderlin, keiner möchte kluge Betrachtungen zum Zusammenhalt der Gesellschaft lesen. Jetzt geht es um das Krisenmanagement.
Danach aber wird Scholz zeigen müssen, dass er mehr kann als die scheidende Kanzlerin: Er muss dafür sorgen, dass das Land widerstandsfähiger gegen künftige Krisen wird. Das ist doppelter Stress. Auch deshalb ist es gut, dass er als Finanzminister im vergangenen Sommer die Langstrecke schon einmal trainiert hat.