Was aber, wenn sie nicht zählt? Wie den Teufeln im Wahlrechtsdetail zu Leibe zu rücken wäre
Was aber, wenn sie nicht zählt? Wie den Teufeln im Wahlrechtsdetail zu Leibe zu rücken wäre
Wer gegenwärtig eine Wahlrechtsreform als notwendig erachtet, hat den aufgeblähten Bundestag mit seinen 736 Abgeordneten vor Augen. Zu der vom Gesetz vorgeschriebenen Zahl kommen 138 Überhang- und Ausgleichsmandate hinzu. Die Parteien scheuen schon seit längerem eine durchgreifende Reform, die die Sollgröße von 598 Abgeordneten erfüllt. Weitere Reformvorschläge betreffen etwa die Senkung des Wahlalters auf 16 und die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Von einer Reform der Fünfprozentklausel ist jedoch nicht die Rede. In den Bundestag ziehen nur Parteien mit einem Stimmenanteil von mindestens fünf Prozent ein. Davon gibt es zwei Ausnahmen: Parteien mit drei oder mehr Direktmandaten sind davon ebenso befreit wie Parteien nationaler Minderheiten.
Die Sperrklausel hilft, die parlamentarische Regierungsbildung zu erleichtern. Aus dem Parlament soll schließlich die Regierung hervorgehen. Einerseits hält die Hürde Kleinstparteien vom Einzug ins Parlament ab, andererseits verhindert sie im Fall einer größeren Nachfrage nicht das Aufkommen neuer Parteien. Das gilt für die Grünen, Die Linke und die AfD. Auch wer die Fünfprozentklausel prinzipiell bejaht, nimmt gleich drei Schwächen wahr. Sie bedürfen der Revision.
Erstens: Nicht jede Stimme wird berücksichtigt – die Voten der Wähler für Parteien, die keine fünf Prozent erreicht haben, fallen unter den Tisch. Bei der Bundestagswahl 2013 betrug dieser Anteil immerhin 15,7 Prozent, und bei den saarländischen Landtagswahlen im März 2022 blieben 22,3 Prozent der Stimmen unverwertet. Dieser „Rekord“ ist höchst kritikwürdig. Schließlich zählt der Wahlakt zu derjenigen Form der politischen Partizipation, von der die Bürger am meisten Gebrauch machen.
Mit Hilfe einer Nebenstimme ließe sich dieser Missstand beheben. Sie käme nämlich dann zur Geltung, wenn jemand für eine Partei votierte, die keine fünf Prozent der Stimmen erreichte. Diese zöge zwar nicht in das Parlament ein, aber deren Wählerinnen und Wähler nähmen an der politischen Willensbildung teil. Das System, das das Wahlvolk nicht überfordert, weist im Vergleich zum jetzigen Modus weitere Vorteile auf:
• Dann erhielten jene Wähler, die für eine an der Sperrklausel gescheiterte Partei votiert haben, ebenso Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlamentes. Deren Nebenstimmen kämen nicht mehr – wie jetzt – den Parlamentsparteien entsprechend ihrer Größe zugute.
• Wähler könnten ohne taktisch-strategisches Überlegen bei der ihnen sympathischsten Partei ihr Kreuz machen, hegten also keine Angst mehr vor einer „Papierkorbstimme“. Niemand muss aus Resignation dem Wahlgang fernbleiben. Die abschreckende Wirkung der Klausel für die „Kleinen“ entfiele ebenso wie ihre sie begünstigende.
• Ein Verfälschen des Wählerwillens unterbliebe. Gegenwärtig kann das anders sein: Bei der Bundestagswahl 2013 scheiterten mit der FDP und der AfD zwei nicht-linke Parteien knapp an der Fünfprozenthürde. So mutierte eine linke Stimmenminderheit zu einer (freilich ungenutzten) linken Mandatsmehrheit.
• Bei solch einer Nebenstimme schlüge das Votum des Wählers ungefiltert durch. Der positive Effekt der Klausel (Schutz vor Zersplitterung im Parlament) hätte Bestand, ihr negativer Effekt (die fehlende Berücksichtigung von Stimmen) verschwände.
Zugegeben: Wer nicht nur die Haupt-, sondern auch die Nebenstimme einer Partei gibt, die an der Fünfprozenthürde scheitert, verwirkte seinen Einfluss. Denn einen gewissen Pragmatismus muss man von der Wählerschaft erwarten. Und eine politische Kraft, die dank der Nebenstimmen regiert, könnte schnell das Attribut „Partei der zweiten Wahl“ erhalten. Im Vergleich zu den schädlichen Nebenwirkungen der Prozenthürde sind das jedoch Petitessen.
Zweitens: Stellt die Fünfprozentklausel eine zu rechtfertigende Ausnahme vom Proportionalprinzip dar, bedeutet die Grundmandatsklausel eine Ausnahme von der Ausnahme. Parteien, die mindestens drei Direktmandate im Bundesgebiet erreichen, sind ebenso von der Fünfprozenthürde ausgenommen.
Diese Regelung lässt sich schwerlich rechtfertigen, unterläuft sie doch die Funktion der Sperrklausel. Es ergibt keinen Sinn, einer Partei mit drei Direktmandaten den Zugang zum Parlament dann zu ermöglichen, wenn sie auf Bundesebene den Anteil von fünf Prozent verfehlt. Sie erhält ihren prozentualen Anteil. Hatte die PDS 1994 mit 4,4 Prozent der Stimmen und vier gewonnenen Wahlkreisen einen Anteil von 30 Mandaten erzielt, gelangten bei der Bundestagswahl 2013 die FDP mit (4,8 Prozent) und die AfD (4,7 Prozent) nicht ins Parlament. Das ist gänzlich unplausibel. Bei einem nach einem Verhältniswahlprinzip bestellten Verfassungsorgan für den Bund dürfen Hochburgen keine Rolle spielen, wobei die drei gewonnenen Direktmandate gar nicht unmittelbar benachbart sein müssen. So zog Die Linke dank dreier Direktmandate (zwei in Berlin, eines in Leipzig) bei der Bundestagswahl 2021 mit 4,9 Prozent in das Parlament ein. Diese Kautele muss gestrichen werden. Abgeordnete mit einem Sieg im Wahlkreis behalten selbstverständlich ihr Mandat.
Schließlich drittens: Bei der Bundestagswahl 2021 gelangte der Südschleswigsche Wählerverband mit einem Stimmenanteil von 0,1 Prozent ins Parlament. Die Privilegierung für Parteien nationaler Minderheiten, die von der Sperrklausel ausgenommen sind, ist bei allem Wohlwollen gegenüber Minderheiten nicht rechtfertigbar, außer für den Landtag. Bürger wählen das Bundesparlament, in dem die Repräsentation derartiger Sonderinteressen keinen Platz hat.
Gewiss, wer am Wahlrecht herumzudoktern sucht, sieht sich dem Verdacht sektiererischen Tüftlertums ausgesetzt. Doch die drei genannten Anregungen sind nachvollziehbar und überzeugend. Sie müssen nur umgesetzt werden. Aber dafür gebricht es offenkundig an Reformeifer.