Angela Merkel und die Deutschen – die persönliche Bilanz eines journalistischen Wegbegleiters
Angela Merkel und die Deutschen – die persönliche Bilanz eines journalistischen Wegbegleiters
Es ist das bittere Ende der 16-jährigen Kanzlerschaft Angela Merkels. Das Afghanistan-Desaster. Ein Versagen des Westens, aller Geheimdienste, zum Schluss ein Versagen der gesamten Bundesregierung und damit auch ein Versagen der Kanzlerin. Sie trägt als Regierungschefin die letzte Verantwortung. Dieses langsame, bürokratische Reagieren auf den dramatischen Abzugsentschluss des US-Präsidenten Joe Biden durch deutsche Ministerien und das Kanzleramt, um das Leben deutscher Staatsbürger und Ortskräfte der Bundeswehr, der Botschaft und vieler Hilfsorganisationen zu retten – dieses Versagen wird haften bleiben nach den 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels.
Es ist und bleibt schleierhaft, warum die Pragmatikerin Angela Merkel, die erfahrenste Staatschefin Europas, sich mit ihrer Regierung und mit der EU so von Joe Biden hat überrumpeln lassen und warum die Situation in Afghanistan so falsch eingeschätzt wurde.
Es bleibt weiter unverständlich, warum Angela Merkel ihre Richtlinienkompetenz als Kanzlerin nicht sofort in dem Moment eingesetzt hat, als offensichtlich wurde, dass besonders das Außen-, das Innen- und das Entwicklungsministerium so schmählich versagten. Da wird ein Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung allein nicht ausreichen, es ist ein Fall für Historiker.
Die Pragmatikerin Merkel wird sich über diese Fehleinschätzungen am meisten von allen Beteiligten grämen, ihr Pragmatismus ist an der Afghanistan-Politik des Westens gescheitert. Am Ende ihrer Amtszeit erlebte Merkel die Ohnmacht Deutschlands und Europas gegenüber den USA, die Ohnmacht gegenüber den Taliban. Es gab keine tragfähigen Pläne für die Zukunft dieses geschundenen Landes. Es ist eine Tragödie mit Ansage. Die Bilder vom Flughafen Kabul, von verzweifelten Menschen, von den Todesopfern des Bombenattentats – diese Bilder bleiben haften, sie werden andere Bilder aus Merkels Kanzlerschaft lange Zeit verdrängen.
Es bleibt die Verwunderung über eine Kanzlerin, die so viel Wert auf genaue Analyse von politischen und organisatorischen Problemen legte, bevor sie sich zu Entscheidungen durchrang.
Diese Fähigkeit zeigte sich schon sehr früh im politischen Leben der Angela Merkel. Es war im März 1990, kurz vor der ersten freien Volkskammerwahl der DDR, als ich Angela Merkel zum ersten Mal begegnete. Eine junge, eher schüchterne Frau, stellvertretene Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs, fragte mich – den damaligen ARD-Wahlmoderator – nach einer Probe, ob wir nicht dem Demokratischen Aufbruch für die Arbeit in der Pressestelle ein paar gebrauchte Computer überlassen könnten? Das war clever und pragmatisch gedacht. Den Wunsch haben wir nicht erfüllt, denn es waren neue Computer, besonders für die Wahlberichterstattung programmiert.
Schon damals, 1990, zeigte sich eine gewisse Kühle und skeptische Zurückhaltung gegenüber politischen Entwicklungen und Personen. Diese Unnahbarkeit und Kühle haben ihr jedoch nie geschadet, sie waren vielleicht sogar die Grundlage für ihre Entwicklung zur mächtigsten Frau in der internationalen Politik der vergangenen 16 Jahre. Sie waren auch die Grundlage für das immer noch anhaltende Vertrauen der Deutschen in die Hamburgerin aus der Uckermark, die in der DDR aufgewachsen war. Dort mussten die Menschen immer sehr genau abwägen, welche Wege im Leben die richtigen Lösungen für sie brachten. Über diese Wege zu Entscheidungen konnte man aber nur mit ganz wenigen Vertrauten reden.
Vielleicht liegt dort auch der Grund für Merkels nicht sehr ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit, trotz teilweise exzellenter Berater an ihrer Seite. Schmerzlich offenbarte sich dieses Manko 2015 bei der Bewältigung der Flüchtlingsproblematik. Es bleibt ein Rätsel, warum sie damals nicht mehrmals Fernsehansprachen an das Volk gehalten hat, um ihre Politik zu erklären, dieses Land mitzunehmen in dieser schwierigen Situation. Erst beim Höhepunkt der Corona-Pandemie hat sie diese Art der Kommunikation genutzt – das war richtig und notwendig.
Die Corona-Krise zeigte aber, wie tief sich die Bundeskanzlerin in Probleme einarbeiten konnte. Letztlich behielt sie mit ihren Annahmen und Voraussagen zur Entwicklung der Covid-19-Pandemie recht. Sie konnte Inzidenz-Berechnungen bis in die kleinsten Verästelungen genauso erklären wie in den vergangenen Jahren Problemfelder der Klimarettung, sodass Journalisten ihr in den üblichen, oft mitternächtlichen Hintergrundgesprächen bei Reisen zu den verschiedensten Gipfeln einige Male völlig übermüdet nur noch schwer folgen konnten. So geschehen auf dem G8-Gipfel im italienischen L’Aquila 2009, als die Bundeskanzlerin uns Journalisten gegen Mitternacht tief in Fragen des Kyoto-Klimaprotokolls und der Bekämpfung der Finanzkrise entführte. Weder Helmut Kohl noch Gerhard Schröder haben sich je so tief in politische Problemfelder eingearbeitet wie sie.
Wie Merkel die Lösungen dieser Probleme dann anging, zeigte ihren Pragmatismus, ihr Abwägen zwischen sachlicher Dringlichkeit und politischen, nationalen und internationalen Handlungsspielräumen. Das gilt für ihre Klimapolitik genauso wie zum Beispiel für ihren Umgang mit Chinas Aufstieg zur Weltmacht.
China hat Merkel fasziniert – sie sah den Aufstieg dieser Nation zu einem Global Player frühzeitig voraus. Wenn man mit ihr im Regierungsflugzeug zusammen nach Peking flog, dann spürten wir Journalisten in den Hintergrundgesprächen ihre Neugier, ihre Faszination, aber auch ihre Furcht vor der immer stärker werdenden Macht Chinas. Sie setzte sich für bessere Handelsbedingungen und mehr Rechtssicherheit deutscher Unternehmen in dem Riesenreich ein, sie sprach die Menschenrechtsfragen an, wohl wissend, dass die chinesische Regierung das eher als Pflichtübung ansah.
Die Chinesen respektierten diese deutsche Kanzlerin. Dieser Respekt wurde besonders deutlich, als Merkel im August 2012 mit dem damaligen chinesischen Ministerpräsidenten die Fertigstellung des einhundertsten Airbus im Werk Tianjin feierte. Sie hielt eine feierlich-politische Rede. Doch was dann folgte, bezeichneten damals die in Peking ständig arbeitenden deutschen Korrespondenten als Sensation: Ministerpräsident Wen Jiabao, der kurz vor dem Ende seiner Amtszeit stand, legte sein Manuskript zur Seite und hielt eine freie Rede. Es war eine emotionale Würdigung der deutschen Kanzlerin.
Bei der Verabschiedung der beiden habe – so berichtete es Merkel dann später auf dem Rückflug uns Journalisten – Wen Jiabao Tränen in den Augen gehabt. Beide schätzten sich, Merkel dürfte danach nie mehr einen besseren Kontakt zu einem chinesischen Spitzenpolitiker gehabt haben, wie zu Wen Jiabao.
Sie sah frühzeitig das Potential Chinas als kommende Weltmacht, nur wie die Europäer diesem Drang strategisch begegnen sollten – da hatten die deutsche Regierungschefin und ihre EU-Partner kein erfolgreiches Konzept.
Dennoch: So geachtet in der Welt wie diese – nach außen fast immer beherrscht auftretende – deutsche Kanzlerin war in den letzten 16 Jahren kein deutscher Politiker, keine deutsche Politikerin. Geachtet von Wladimir Putin, weil er sie als Vermittlerin brauchte, sie dabei aber immer wieder nervte oder enttäuschte, geachtet von Barack Obama, weil beide das gleiche Verständnis von politischem Handeln und Glaubwürdigkeit hatten.
Ich war bei mehreren Treffen Merkels mit dem US-Präsidenten Zeuge, und schon bei der ersten Begegnung der beiden in Berlin wurde die gegenseitige große Sympathie deutlich, die auch durch Meinungsverschiedenheiten nicht getrübt wurde. Donald Trump hat sie kühl überlebt, von Joe Biden dürfte sie enttäuscht sein. Seine Abzugsentscheidung ohne Vorwarnung aus Afghanistan hat Merkel am Ende eine ihrer schwersten innenpolitischen Situationen beschert und die deutschen Schwächen in der Bewältigung einer gefährlichen politischen, militärischen und terroristischen Krisenlage aufgezeigt. Dort muss es nach Merkel eine Neuorientierung geben.
In den Jahren ihrer Kanzlerschaft haben sich die Deutschen ziemlich wohl gefühlt, keine schlechte Bilanz für eine Regierungschefin. Vielleicht sogar zu wohlig. Nun ist das Erwachen groß.