Lehren aus der Pandemie: Deutschland steht vor gesundheits- und sozialpolitischen Herausforderungen
Lehren aus der Pandemie: Deutschland steht vor gesundheits- und sozialpolitischen Herausforderungen
Es ist verfrüht, die Covid-19-Pandemie wegen bundesweit sinkender Inzidenzen für beendet zu erklären, jedoch an der Zeit, eine Bilanz ihrer Folgen für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sowie erste Lehren daraus zu ziehen. Die pandemische Ausnahmesituation hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass Deutschland dank seiner hervorragenden Ressourcenausstattung, funktionsfähigen Behörden und föderalen Struktur für die Bewältigung einer solchen Krise gerüstet ist. Trotzdem hat die Bundesrepublik ihre gesundheitspolitische Bewährungsprobe höchstens mit der Note „ausreichend“ bestanden.
Gemeinwohl- statt Gewinnorientierung im Gesundheitswesen
Krankenschwestern, Altenpfleger und Pflegehilfskräfte, die besonders schlecht bezahlt werden, galten auf dem ersten Höhepunkt der Pandemie als „Helden“, ohne dass man untersucht hätte, warum ihr Gehalt, ihre Arbeitsbedingungen und ihr sozialer Status in den vergangenen Jahrzehnten stärker hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben waren. Finanzinvestoren übernehmen Krankenhäuser sowie Senioren- und Pflegeheime, weil diese aufgrund der Alterung unserer Gesellschaft hohe Renditen versprechen.
Vor allem Krankenhäuser haben sich immer stärker zu profitorientierten Gesundheitsunternehmen entwickelt. Klinikkonzerne wie Helios, Sana und Asklepios sind private, teilweise börsennotierte Unternehmen, die sich vorrangig um eine optimale Verwertung des eingesetzten (Aktien-)Kapitals bemühen und maximale Renditen erwirtschaften müssen. Da die Personalkosten im Gesundheitswesen ein größeres Gewicht als in anderen Branchen haben, versuchen die Betreiber solcher Einrichtungen, die Gehälter zu drücken und Personal einzusparen, was zu einer Arbeitsverdichtung und wachsender Unzufriedenheit der Beschäftigten führt.
Eine der wichtigsten Lehren aus der Pandemie ist die Notwendigkeit eines nicht durch Ökonomisierung, (Teil-)Privatisierung und Kommerzialisierung geschwächten Gesundheitssystems. Erforderlich ist eine Kehrtwende von der Gewinn- zur Gemeinwohlorientierung, verbunden mit einem Systemwechsel in der Krankenhausfinanzierung. Auch dem Öffentlichen Gesundheitsdienst müssen wieder mehr personelle und materielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, soll er die Herausforderungen einer neuerlichen Pandemie meistern.
Um- und Ausbau des Sozialstaates
Als sich SARS-CoV-2 in Deutschland ausbreitete, hat sich der Sozialstaat als „systemrelevant“ und im Kern als funktionstüchtig erwiesen. Ohne sinnvolle Leistungen wie das Kurzarbeitergeld wären beispielsweise viel mehr Familien während des Lockdowns und der teilweise darauf zurückzuführenden Rezession an den Rand des wirtschaftlichen Ruins geraten.
Es war auch richtig, den Hartz-IV-Bezug für von der Coronakrise gebeutelte Soloselbstständige zu erleichtern, indem man für sie die strenge Vermögensprüfung aussetzte und die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte. Warum sollte diese Regelung keine Dauerlösung und nicht das Vorbild für weitere Schritte zur Entbürokratisierung des Sozialstaates und zur Vereinfachung des Antragsverfahrens in der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein?
Menschen, die durch sämtliche Maschen des bestehenden Systems der sozialen Sicherung fallen, dürfen nicht in existenzielle Bedrängnis – Wohnungslosigkeit, Überschuldung und Privatinsolvenz – geraten. Nötig wäre eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf Personen, die Unterstützung benötigen, um in Würde leben zu können. Das gilt für prekär Beschäftigte, Leiharbeiter/innen und Randbelegschaften ebenso wie für Soloselbstständige und jene Freiberufler/innen und Kleinunternehmer/innen, die über zu geringe finanzielle Rücklagen verfügen. Neben den Räumungsklagen und den Zwangsräumungen müssten während einer Epidemie auch Mieterhöhungen ausgesetzt werden.
Ein solidarischer Weg aus der Krise
Die wichtigste Lehre aus der Covid-19-Pandemie lautet, nicht länger den neoliberalen Verlockungen („Privat geht vor Staat“) zu erliegen und dort nicht mehr prioritär auf den Markt zu setzen, wo es um die öffentliche Daseins- und Gesundheitsvorsorge geht. Es gibt einen solidarischen Weg aus der Coronakrise: Wenn der Wohlfahrtsstaat künftig umfassender für einen Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur sorgt und genügend öffentliche Investitionen tätigt, kann die Gesellschaft sogar im Falle einer Pandemie oder einer anderen nationalen Katastrophe funktionsfähig bleiben, die damit verbundenen Probleme bewältigen und ihre besonders gefährdeten Mitglieder optimal schützen.
Das ist die Kardinalfrage am Ende der Covid-19-Pandemie: Wer kommt für die Kosten der Coronakrise auf und trägt die enormen Staatsschulden? Will man diese möglichst bald tilgen und die Schäden ähnlicher Ereignisse minimieren, führt nichts an der Notwendigkeit vorbei, bestimmte Steuern zu erhöhen oder wieder zu erheben und verstärkt kreditfinanzierte Investitionen zu tätigen. Da die wirtschaftlichen Verwerfungen der Pandemie mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einhergehen, ja, geradezu deren Kehrseite bilden, der Staat aber durch ihre Kosten finanziell enorm belastet ist, muss die sozioökonomische Ungleichheit durch Maßnahmen einer Umverteilung von oben nach unten zurückgedrängt und für zusätzliche Steuereinnahmen gesorgt werden. Ob man dies durch eine Vermögensabgabe nach dem Vorbild des Lastenausgleichs von 1952, einen Corona-Soli und/oder die Wiedererhebung der Vermögensteuer erreicht, ist sekundär.