Souverän ist, wem zugehört wird

Im Ausnahmezustand: Zieht die Coronakrise zu viel Aufmerksamkeit vom Bundestag ab?

01
11
PICTURE ALLIANCE/REUTERS
Alle mal herhören: In Londons Hyde Park darf in der berühmten Speaker’s Corner jeder seine Thesen unters Volk bringen – auf jeden Fall, es versuchen.
01
11
PICTURE ALLIANCE/REUTERS
Alle mal herhören: In Londons Hyde Park darf in der berühmten Speaker’s Corner jeder seine Thesen unters Volk bringen – auf jeden Fall, es versuchen.

Souverän ist, wem zugehört wird

Im Ausnahmezustand: Zieht die Coronakrise zu viel Aufmerksamkeit vom Bundestag ab?

„Krisen sind die Stunde der Exekutive.“ Diesen Satz hat man in den letzten Monaten häufig gehört und gelesen. Egal ob Naturkatastrophen, Anschläge, Währungs- oder Wirtschaftskrisen, immer sind schnelle Entscheidungen notwendig. Die Ereignisse verdichten sich, und die Politik muss aufpassen, nicht ununterbrochen von ihnen überholt zu werden.

Häufig werden dann die immer gleichen Debatten geführt und die Frage gestellt, ob die Demokratie für solche Situationen ausreichend handlungs- und reaktionsschnell ist. Es ist leider so: Autokratische Regime können Entscheidungen deutlich schneller treffen und umsetzen.

Und in Krisen kann das tatsächlich notwendig sein. Deshalb gibt es auch in Demokratien Regeln und Mechanismen, die in bestimmten Situationen die Kompetenzen und Möglichkeiten der Exekutive erhöhen. All das ist grundsätzlich nichts Verwerfliches.

All die Machtverschiebungen, die in solchen Situationen zum Tragen kommen, sind vom Parlament verabschiedet worden und unterliegen Vorgaben, die sie begrenzen. Nur solange es begründbar ist, verhandeln Vertreter der Exekutive untereinander und erlassen Verordnungen. Dabei ist der Bundestag nicht völlig außen vor. Er entscheidet über den an Corona angepassten Haushalt, und es gibt bereits jetzt regelmäßige Fragestunden. Die Umsetzung der Verordnungen ist außerdem Ländersache.

Dennoch ist die Corona-Pandemie regelmäßig auf der Tagesordnung, und der Bundestag ist es selbst, der die derzeit geltende Notlage aufheben kann. Für die nun kommenden Maßnahmen ist vereinbart, dass sie erst dann endgültig beschlossen sind, wenn der Bundestag eine „akute Gesundheitslage“ feststellt. Die Maßnahmen gelten dann zwar bereits, aber werden erst durch die Debatte und Abstimmung im Bundestag gerechtfertigt. Auch wenn derzeit viel von der „Entmachtung des Parlaments“ geredet wird, rein institutionell betrachtet, müssen wir uns um unsere parlamentarische Demokratie keine Sorgen machen.

Trotzdem: Bislang forderten zwar nur AfD und FDP die Aufhebung der geltenden Notlage, aber auch aus den Regierungsfraktionen haben sich zuletzt die Stimmen gemehrt, die mehr Mitspracherechte verlangten. Das hat auch viel mit Sichtbarkeit zu tun. Die Funktion des Parlaments als Forum hat aus Infektionsschutzgründen zu Beginn der Pandemie gelitten, aber die Arbeitsfähigkeit wurde durch eine Änderung der Geschäftsordnung schnell wiederhergestellt. Dennoch verliert das Parlament rapide an Aufmerksamkeit und Interesse durch die Medien. Die Nachrichten werden dominiert von der Kanzlerin, bestimmten Ministerinnen und Ministern sowie Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten.

Eine Krise schafft Unsicherheit und Vertrauensverlust. Dann ist Kontinuität wichtig. Wir kennen das aus Unternehmen, die ins öffentliche Interesse geraten, weil es Skandale gibt, oder sie sich in einer Krise befinden. Auch diese bestimmen einen oder mehrere Sprecher, die gewissermaßen zum Gesicht der Krise werden. Für Medien sind sie der konkrete Ansprechpartner, bei dem sie wissen, dass sie befähigt sind, den aktuellen Sachstand zu kennen und zu beschreiben. Auch in der Corona-Pandemie waren es immer wieder dieselben Akteure, die wir in den Nachrichtensendungen sahen oder von denen wir in der Zeitung lasen.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Exekutive in der Krise auch deutlich mehr kommuniziert, um gesicherte Informationen zu liefern und dem gesteigerten Informationsbedürfnis gerecht zu werden. Dazu werden unterschiedlichste Kanäle bespielt und auch verstärkt die Nähe zu Journalisten gesucht. Beschlussvorlagen und Pläne werden vorab an Medien gegeben und die Öffentlichkeit auch auf diesem Weg informiert.

Die Besonderheit der jetzigen Situation aber ist, dass sich die gegenwärtige Krise schon enorm lange zieht – und wir obendrein das Virus noch längst nicht im Griff haben. Das verlagert weiterhin Aufmerksamkeit, die das Parlament sonst genoss, auf andere Akteure. Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Wenn bestimmte Ereignisse oder Akteure mehr Aufmerksamkeit bekommen, muss es etwas geben, worauf weniger Aufmerksamkeit gerichtet wird. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich derzeit Infektionen, Verordnungen, öffentliche Meinung, Wirtschaft und wissenschaftliche Erkenntnis über das Virus verändern, kann die öffentliche Aufmerksamkeit nicht überall gleichzeitig sein. Mal ganz abgesehen davon, dass auf der Welt auch noch andere Dinge passieren.

Das Parlament verliert mit der Aufmerksamkeit aber eines seiner wichtigsten Instrumente: die Herstellung von Öffentlichkeit. Die Pandemie überlagert derzeit alles und wird uns noch lange begleiten. Auch politische Mechanismen und Entscheidungsfindung verlieren in ihrem Schatten an Nachrichtenwert.

Auf vielen Ebenen muss überlegt werden, wie der Parlamentarismus krisenresistenter gemacht werden kann. Beispielsweise durch die Möglichkeit virtueller Abstimmungen, wie sie das Europäische Parlament eingeführt hat. Der sinkenden Aufmerksamkeit für das Parlament lässt sich aber nur schwer durch neue Regelungen begegnen. Die strukturellen, krisenbedingten Veränderungen in der Aufmerksamkeitsökonomie lassen sich nicht ignorieren. Man kann sich über sie beschweren, aber das hilft ungefähr so viel, wie sich über das Coronavirus an sich zu beschweren. Vielmehr ist es auch Aufgabe der Parlamentarier selbst, wieder sichtbarer zu werden. Dies gestaltet sich schwieriger, weil die Hierarchien im Parlament nicht so eindeutig sind wie in der Regierung und die entsprechenden Ansprechpartner schwerer auszumachen sind. Besonders kompliziert ist es für die Opposition. Die Krise führte zu enormen Zustimmungswerten der Regierung, und die Kontrolle einer Regierung, die in der Bevölkerung solches Vertrauen genießt, ist ungleich schwerer. Dass die Parlamente in der Krise aber keine Rolle spielen, ist nicht wahr. Sie müssen ihre Rolle jedoch besser kommunizieren. Es geht nicht darum, dass sie nichts zu sagen hätten, aber sie müssen sich den veränderten Kommunikationsbedingungen anpassen, um wieder Gehör zu finden. Dass die Aufmerksamkeitsökonomie grundsätzlich funktioniert, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es den Parteien derzeit sehr gut gelingt, ihre Unzufriedenheit über die geringe Aufmerksamkeit auf die Agenda zu setzen. Die Krise stellt für die Aufmerksamkeit des Parlaments ein Hindernis dar, hebelt sie aber nicht aus. Daraus aber direkt eine Gefährdung der Demokratie abzuleiten, ist gefährlich und der Sache nicht angemessen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe