Mehr als ein Antrittsbesuch: Angela Merkel besucht Joe Biden
Mehr als ein Antrittsbesuch: Angela Merkel besucht Joe Biden
Fast so lange wie eine Schwangerschaft dauerte es, bis der vor gut neun Monaten gewählte neue US-Präsident Joe Biden endlich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel im Weißen Haus zum formellen Antrittsbesuch empfängt. Beide haben sich natürlich auch schon auf den verschiedenen Gipfeln im Rahmen der Europareise Bidens gesehen und ganz sicher auch längst häufig miteinander telefoniert. Und doch ist es ungewöhnlich, dass dieses Treffen nach den großen Verunsicherungen der Trump-Zeit und den großen globalen Herausforderungen erst jetzt stattfindet.
Offiziell war es die angespannte Lage in der Pandemie-Bekämpfung, die politische Besuche in Washington nicht ermöglichte. Das allerdings hinderte Biden nicht daran, in dieser Zeit und noch vor seiner Reise nach Europa zwei wichtige Partner im Weißen Haus zu empfangen: im März den japanischen Ministerpräsidenten Yoshihide Suga und Südkoreas Präsident Moon Jae In. Das ist mehr als eine zufällige Randnotiz, denn in den außenpolitischen Prioritäten dominiert für den US-Präsidenten der Konflikt mit China – und damit auch die Zusammenarbeit mit Partnern und Verbündeten im Indo-Pazifik. So sehr auch die erneuerte transatlantische Allianz und die Nato bei dem Besuch Bidens in Europa im Mittelpunkt standen, so dürfte das Interesse am sogenannten „Quad-Format“ der USA mit Japan, Australien und Indien – demnächst erweitert durch Südkorea – doch weit überwiegen. Die Europäer und speziell die Deutschen erscheinen nicht nur geografisch zu weit entfernt vom Austragungsort der amerikanisch-chinesischen Rivalität, sondern auch politisch.
Geopolitischer Spagat
Umso mehr wird die deutsche Kanzlerin damit zu tun haben, einen Weg zu eröffnen, bei dem Deutschland stellvertretend für Europa politisch unzweifelhaft zu dem von Biden angestrebten Bündnis der Demokratien steht, zugleich aber Spielräume für die Zusammenarbeit existent bleiben, wo sie aus Sicht der Europäer sinnvoll erscheinen und den generellen gemeinsamen Zielen des „Westens“ nicht widersprechen. Kein einfaches Unterfangen und trotzdem ebenso richtig wie notwendig. Dagegen erscheint die Beratung und Lösung spezieller deutsch-amerikanischer Konfliktthemen wie die geplante Erdgaspipeline Nord Stream 2 mit Russland oder die weiterhin existierenden US-Handelssanktionen gegen den Import von Stahl und Aluminium aus Deutschland fast ein Spaziergang zu sein.
Denn ganz offensichtlich hat Biden seine Mission gefunden: die Stärkung der liberalen Demokratien gegen die autoritären Versuchungen im eigenen Land und in der Welt und damit nichts weniger als die Erneuerung des Westens – als Gegenmodell zu jenen autoritären Entwürfen, die derzeit auf dem Vormarsch sind. Mit Blick auf die Zerrüttung seines eigenen Landes und die vielen, die trotz des gigantisch gewachsenen Wohlstands zurückgelassen wurden, sieht Biden die Gefahr für den demokratischen und kapitalistischen Teil der Welt vor allem im Innern: Wo die Demokratien im eigenen Land ihr Versprechen auf Fairness, Gerechtigkeit und Sicherheit nicht erfüllen können, werden sie im Rest der Welt keine Nachahmer, eher schon Gegner finden.
Partner in Leadership?
Kann Europa ein Partner bei dieser Mission sein – und wenn ja, wie? Die Frage ist: Gibt es einen „dritten Weg“ für Europa? Politisch und gesellschaftlich sicher nicht, denn die Verankerung im westlichen Wertesystem ist konstitutionell für Europa. Und praktisch? Technologisch sind wir von den USA und in wachsendem Maße von China abhängig, denn wir sind digitale Habenichtse. Militärisch wird zwar viel von einer europäischen Armee geredet, aber weder finanziell noch verfassungsrechtlich scheint das größte Land Europas, Deutschland, bereit zu sein, mehr zu tun, als Sonntagsreden darüber zu halten. Und unser größtes „Pfund“, den Binnenmarkt, nutzen wir bislang weder zur Steigerung unseres geoökonomischen und geopolitischen Einflusses noch für neue Handelsbeziehungen.
Wenn Europa einen Beitrag zu Bidens Ziel einer Erneuerung des Westens leisten soll, muss es zuerst selbst stärker werden. Und da Europa das vermutlich in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nur sehr langsam tun wird, muss es den Ausbau des europäischen Binnenmarktes weiter vorantreiben, denn dieser größte Binnenmarkt der Welt macht nach wie vor die eigentliche Attraktivität Europas aus.
Insofern hatte die Bundeskanzlerin in ihrer Rede auf dem Tag der Deutschen Industrie den richtigen Ton gesetzt: Die zentrale Aufgabe in Deutschland und Europa besteht in Investitionen in Forschung und Technologie, in Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Deutschland und Europa müssen vor allem im Bereich der industriellen Fertigung die Technologieführerschaft wiedererlangen und die Abhängigkeiten von China (und den USA) verringern.
Kein neuer Kalter Krieg
Wirtschaftliche Resilienz durch Technologieführerschaft zu sichern und zu stärken ist etwas anderes, als einer Entkoppelung von China oder gar der De-Globalisierung das Wort zu reden. Deshalb liegt dort der Spielraum für eine Verständigung mit den USA auf dem Feld der Chinapolitik. Größere Resilienz gegenüber technologischen Abhängigkeiten: ja. De-Coupling und Eintritt in einen Kalten Krieg 2.0: nein.
Europa und damit auch Deutschland werden ihre politischen und wirtschaftlichen Handlungsspielräume nur dann nutzen und erweitern können, wenn der europäische Binnenmarkt wirtschaftlich und technologisch wieder erfolgreicher wird. Andernfalls werden wir schlicht uninteressant und eher zur Beute denn zum geachteten und respektierten Partner in der Welt. Im Kern geht es also um Investitionen in den Ausbau der digitalen Infrastruktur, in einen gemeinsamen Datenmarkt und um technologische Innovationsfähigkeit in der Digitalisierung und Entwicklung künstlicher Intelligenz.
Mehr Biden wagen!
Joe Biden versucht, sein Land gerade mit einem gewaltigen Investitionsprogramm in diesen Bereichen zu modernisieren, und will damit zugleich den Klimaschutz stärken und den abgehängten Regionen Amerikas neue Perspektiven geben. Biden weiß: Nur wenn die Demokratie im eigenen Land unter Beweis stellt, dass sie Chancen und Lebensperspektiven für alle schafft, wird sie auch global eine ernst zu nehmende und attraktive Alternative zu den autoritären Angeboten bleiben.
Deshalb ist Bidens Politik auch interessant für Europa, denn auch dort gibt es Regionen und ganze Staaten, die von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung weitgehend abgekoppelt sind und bei denen die Gefahr besteht, dass sie schwächer aus der Krise der Pandemie herauskommen, als sie hineingegangen sind. Wenn wir diese Regionen Europas nicht den Populisten überlassen wollen, werden wir mehr Biden wagen müssen. Es ist zu hoffen, dass sich die Kanzlerin auch darüber im Weißen Haus informieren lässt – und es ihren Nachfolgern mit auf den Weg gibt.