Postskriptum
Postskriptum
Soll keiner denken, es ginge bloß um Sport, um ein Spiel, eine Nebensache.
Isiah Thomas, einer der Großmeister des Spiels der 1980er-Jahre, behauptete einst vielsagend, das Geheimnis des Basketballspiels sei, dass es nicht um Basketball gehe. (Wer Männerfußballvergleiche braucht, kann sich Thomas als einen Michel Platini vorstellen.)
Die sportlichen Geschehnisse und die daran anschließende überaus erregte politische Debatte in den USA legten erneut eine Interpretation dieses Satzes nahe, die nur lauten kann: Es geht auch dort um Politik, sich verschärfende gesellschaftliche Konfliktlinien, fundamentale Identitätsfragen.
Jedes Jahr werden im März und April die College-Basketball-Meisterschaften ausgetragen, jeweils 64 Männer- und Frauenteams spielen verteilt über das ganze Land, die Spiele werden allesamt live auf den großen Sendern übertragen. Nicht nur die vielen Absolventinnen der jeweiligen Universitäten stehen im Bann von March Madness, wie es im Volksmund heißt, kein Büro, in dem die Mitarbeiter nicht den Turnierbaum ausfüllen und auf den Ausgang wetten. Großer Sport, große Aufmerksamkeit. Und natürlich auch big business – die Fernsehrechte kosten Milliarden, Trainerinnen und Trainer verdienen Millionengehälter für eine Saison, die fünf Monate dauert. (Wieder auf Fußballdeutsch übersetzt hieße das alles etwa: die U21-Teams der Universität Hamburg gegen die Uni Freiburg locken locker 50 000 Zuschauer ins Stadion, die Coaches der Teams sind so bekannt wie Thomas Tuchel und Jürgen Klopp und die Zeitungen voll mit Berichten über die Nachwuchsteams.)
Am vergangenen Wochenende standen sich im Finale der Damen Iowa und Louisiana State gegenüber. Iowas Star ist die 21-jährige Caitlin Clark, die eine phänomenale, Rekorde brechende Saison gespielt und ihr mittelmäßiges Team beinahe eigenhändig ins Endspiel gebracht hatte. Während des Final-Four-Wochenendes führte der Hashtag mit ihrem Namen die weltweiten Twitter-Rankings an. (Übersetzt: Lionel-Messi-zum-WM-Endspiel-Dimensionen.)
Im Finale verloren ihre Hawkeyes jedoch gegen die LSU Tigers. Gegen Ende des Spiels hielt deren Star Angel Reese ihre Hand vors Gesicht – die Geste galt Clark und sollte, freundlich ausgedrückt, sagen: Du kannst mit mir nicht mithalten! I’m better!
Daraufhin ging auf allen Hauptstrom- und sozialen Kanälen der erste Sturm gegen Reese los: unsportliches Verhalten, grobe Respektlosigkeit, unterklassig.
Die Hand-vor-dem-Gesicht-Geste gehört eigentlich zum Standard-Repertoire des trash talks, kleine psychologische Provokationen, um Gegner und Gegnerin aus dem Konzept zu bringen, ein Teil des Spiels. Die Empörung über Reese war schon deswegen schief, da Clark im Viertelfinale gegen Louisvilles Hailey van Lith die gleiche Geste verwendet hatte. Angel Reese ist Schwarz, Caitlin Clark ist weiß – und obendrein auch noch die jüngste amerikanische Great White Hope, ein argwöhnischer bis heikler Titel mit unrühmlicher Geschichte, der den wenigen herausragenden weißen Spielern zugeschrieben wurde, die im empirisch unwiderlegbar von Schwarzen dominierten Sport die Rolle des identifikatorischen „Hoffnungsträgers“ übernehmen sollten, mit den Größten des Spiels mithalten zu können.
Die rassistischen Untertöne gegen Reese, Spitzname, ob des raffinierten Make-ups: Bayou Barbie, und ihre hauptsächlich schwarzen Teamkameradinnen (für Iowa spielen überdurchschnittlich viele weiße Spielerinnen) folgten dann auch den leidlichen Vorurteilsstrukturen. Der langjährige New-York-Times-Kolumnist William Rhoden fasste die doppelten Standards und vergifteten Einordnungen für das Sportfeuilleton Andscape griffig zusammen: Hier Wagemut, dort Grobheit, hier zähe Entschlossenheit, dort Rücksichtslosigkeit, hier kämpferisch und sauber, dort protzige Rabauken. (Dabei spielt LSU einen schöneren, teamorientierteren Stil als die one-woman-show Hawkeyes). Und er schloss mit der bitteren Erkenntnis, dass Hawkeyes gegen Tigers einfach auch gesellschaftlich das allzu passende Aufeinandertreffen für eine polarisierte Nation gewesen sei.
Das war dann aber noch lange nicht alles. Es ist eine schöne amerikanische Tradition, dass die Siegermannschaften aller großen Wettkämpfe, ob im Football, Baseball oder Basketball, auch die Universitätsteams, ins Weiße Haus eingeladen werden. Barack Obama nutzte die Termine zu so manchen legendären, rührenden wie witzigen Reden. (Übersetzung ins Fußballdeutsch: unvorstellbar.) First Lady Jill Biden schlug nun Anfang der Woche vor, doch auch Iowas zweitplatziertes Team mit Caitlin Clark zu Besuch zu bitten. Selbst wenn dies, wie Bidens Presseteam nicht schnell und oft genug nachzuschieben sich bemühte, unschuldig freundlich gemeint gewesen sein sollte, war es doch ein eklatanter Fauxpas, schon unter normalen sportlich-zeremoniellen Gepflogenheiten eine Desavouierung des Louisiana-State-Teams. Reese reagierte dann auch entsprechend angefasst und fragte schon einmal, ob es nicht einen Termin bei Barack und Michelle gäbe.
Mit Isiah Thomas’ Geheimnis ist tatsächlich einer jener klassischen – nur vermeintlichen – Gemeinplätze, in Wahrheit aber eben doch großen Wahrheiten des Sports und des Lebens gemeint: Noch wichtiger als die spezifischen Fähigkeiten Einzelner ist der Zusammenhalt eines Teams, der selbstlose Einsatz füreinander, das kluge Zusammenspiel, die gegenseitige Ermutigung, sind es Freundschaft und Liebe.