Der Sport darf keine Imagebühne für krude politische Zwecke sein. Zeit, dass sich was dreht
Der Sport darf keine Imagebühne für krude politische Zwecke sein. Zeit, dass sich was dreht
Thomas Oppermann, der von mir ausgesprochen geschätzte und leider im vergangenen Jahr viel zu früh verstorbene frühere Vorsitzende unserer SPD-Bundestagsfraktion sagte einmal: „Der Sportausschussvorsitz ist doch das schönste Amt im Deutschen Bundestag.“
Nun ja, wie man’s nimmt. Keine Frage, ich habe Olympische und Paralympische Spiele hautnah miterleben können, ebenso andere hochkarätige internationale Sportveranstaltungen bis hin zum WM-Endspiel 2014 in Rio de Janeiro. Aber 27 Jahre Sportpolitik ermöglichten mir eben auch profunde und gleichsam verstörende Einblicke in Funktionsweisen, Mechanismen und Strukturen von Sportverbänden auf nationaler und internationaler Ebene.
Der Sport hat schon aufgrund seiner starken Verankerung in der Gesellschaft ohnehin einen hohen Stellenwert im politischen Raum, und diesen weiß er durchaus für seine Zwecke zu nutzen. Dass allerdings gelegentlich der Blick für das Wesentliche verloren geht, erlebt man zurzeit auch auf der nationalen Ebene.
Originäre Aufgabe der Verbände ist es, zum Wohl ihrer Mitgliedsorganisationen zu arbeiten. Mehrere Spitzensportverbände befinden sich jedoch in schweren Turbulenzen, der Dachverband Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) präsentiert sich mit einem Präsidenten samt Präsidium auf Abruf, der DFB ist innerhalb von etwas mehr als eineinhalb Jahren erneut auf der Suche nach einem Präsidenten – oder einer Präsidentin. Mit anderen Worten: Die bedeutendsten Organisationen des deutschen Sports präsentieren sich als „lame ducks“ – und das in der schwersten Krise, die unsere Gesellschaft nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu bewältigen hat. Es ist doch bezeichnend, dass die erst vor wenigen Jahren gegründete unabhängige Athletenvertretung Athleten Deutschland e. V. sich innerhalb kürzester Zeit zum Think Tank im deutschen Sport entwickelt hat. Von dort gehen Impulse aus, die ich von Sportfachverbänden in Deutschland seit langer Zeit vermisse. Schlimmer noch: Ich habe den Eindruck, dass Initiativen dieser engagierten Athletinnen und Athleten aus einigen Funktionärsgremien immer wieder bewusst torpediert werden, vermutlich auch, weil diese selbstbewusste und meinungsstarke Athletengeneration die alten Machtstrukturen erkennbar infrage stellt.
In Festreden und Broschüren spielen die unbestrittenen Werte des Sports wie Toleranz, Fairness oder Respekt stets eine herausragende Rolle. Wenn es allerdings darum geht, den Worten konkrete Taten folgen zu lassen, sieht es regelmäßig anders aus. Jüngstes Beispiel ist die Ablehnung des Vorhabens des Münchner Stadtrates durch die UEFA, die Allianz Arena anlässlich des Spiels Deutschland-Ungarn in den Regenbogenfarben erstrahlen zu lassen.
Keine Frage – natürlich wäre das ein politisches Signal in Richtung Ungarn gewesen, ein Land, in dem homophobe Tendenzen durch die Regierung kürzlich noch befördert wurden. Und eine Chance, mit der überragenden Reichweite, die der Fußball aufgrund seiner weltweiten Verankerung in der Gesellschaft hat, eine unmissverständliche Botschaft für Menschenrechte zu senden. Viele Initiativen nationaler und internationaler Sportverbände erwecken den Anschein einer modernen, demokratischen und weltoffenen Organisation.
Aber Good Governance im Sport bleibt dann letztlich doch nur ein häufig zitiertes Schlagwort. Wir sehen seit Jahren, wie autokratische Staaten mit prall gefüllten Geldbeuteln bei der Bewerbung um internationale Sportgroßveranstaltungen zunehmend in die erste Reihe treten, weil sie erkannt haben, dass die Gastgeberrolle eine hervorragende Möglichkeit ist, den globalen Sport als Imagebühne für das eigene politische System zu nutzen. Dass dies offenbar funktioniert, liegt nicht nur an der Mentalität internationaler Sportverbände, nichts hören, nichts sehen und nichts sagen zu wollen. Es liegt auch daran, dass die Bürgergesellschaft in vielen demokratischen Staaten die Austragung von ausufernden, teuren und nicht nachhaltigen Sportgroßveranstaltungen ablehnt und somit alternative Bewerbungen immer schwerer zu realisieren sind. Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Presse- und Meinungsfreiheit sowie die Einhaltung der Menschenrechte sollten jedoch niemals hinter den ganz offensichtlich vor allem monetären Interessen der Sportverbände zurückstehen müssen.
Auch Gesundheit ist ein Menschenrecht. Da stellt sich angesichts einer weltweit grassierenden Pandemie zwangsläufig die Frage, wie verantwortungsvoll die Austragung internationaler Sportveranstaltungen unter solchen Bedingungen ist. Wir sehen bei der Fußball-EM aktuell eng gedrängte, jubelnde Menschenmassen in fast vollbesetzten Stadien. Wir erleben, wie die UEFA keinen Skrupel hat, für das Finale im Londoner Wembley-Stadion Ausnahmen von den Quarantäneregelungen für ihre VIPs zu fordern.
Es ist unverantwortlich, Stadien wie in Budapest bis auf den letzten Platz zu besetzen oder in Virusvariantengebieten wie in Großbritannien Menschen aus allen Ecken Europas zusammenkommen zu lassen. Feiernde Fußballfans halten keinen Abstand, jede Hygieneregel wird dort obsolet. Diese Menschen treffen aber anschließend ihre Familien, Bekannte und Arbeitskollegeninnen. Werden wir je erfahren, wie viele Menschen sich aufgrund der aus meiner Sicht unverantwortlichen Zustände in den Stadien infiziert haben? Wie viele eventuell schwer erkrankt oder gar verstorben sind?
An dieser Stelle muss auch der Blick auf die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio in wenigen Wochen gerichtet werden. Trotz diverser Einschränkungen für Fans, werden viele Menschen – Athletinnen, Betreuer, Funktionäre – aus allen Kontinenten werden nach Tokio einfliegen, und das in Zeiten, in den immer mehr Mutationen des Coronavirus bekannt werden. Ich sehe die Bemühungen, eine Hygieneblase aufzubauen. Wir alle wissen aber aus den Erfahrungen der vergangenen Monate, dass diese Blasen löchrig sind.
Vielleicht sollten wir die Corona-Pandemie auch und gerade im internationalen Sport als Auszeit sehen und die Möglichkeit der Reflexion über Fehlentwicklungen und Missstände nutzen. Nelson Mandela hat gesagt, dass Sport die Kraft habe, die Welt zu verändern. Ich teile diese Auffassung – aber es muss uns gelingen, zu den Grundwerten des Sports im großen wie im kleinen zurückzukehren.