Sternstunde des 20. Jahrhunderts

Erfinder der „Sinatra-Doktrin“, Wegbereiter der Freiheit – zum 90. Geburtstag von Michail Gorbatschow

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PICTURE-ALLIANCE/DPA | MARTIN ATHENSTÄDT
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PICTURE-ALLIANCE/DPA | MARTIN ATHENSTÄDT

Sternstunde des 20. Jahrhunderts

Erfinder der „Sinatra-Doktrin“, Wegbereiter der Freiheit – zum 90. Geburtstag von Michail Gorbatschow

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Es ist der wohl berühmteste Satz Michail Gorbatschows – obwohl er ihn so nie gesagt hat. Das wahre Zitat lautet: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Gorbatschows Worte waren an Erich Honecker gerichtet. Er warnte ihn, sich einer Erneuerung der DDR zu widersetzen. Das war 1989.

Vier Jahre zuvor war Michail Sergejewitsch Gorbatschow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt worden. Der junge Parteifunktionär wird vom Volk mit Begeisterung aufgenommen – endlich einer, der die Sprache der Menschen spricht, ihre Sorgen, Nöte und Träume kennt. Der Bauernsohn vom Land steckt voller Tatendrang. Er ist sich sicher: „Je besser die Menschen informiert sind, desto bewusster handeln sie“. Seine Politik der Offenheit wird unter dem Schlagwort „Glasnost“ bekannt. Gleichzeitig will Gorbatschow das Land umgestalten und den Sozialismus zu einem leistungsfähigen System umbauen. Mit seiner „Perestroika“ leitet er den Prozess zur Modernisierung von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ein.

Auch auf der internationalen Bühne gibt Gorbatschow der Außenpolitik der Sowjetunion eine völlig neue Stoßrichtung. Abrüstung ist ihm ein zentrales Anliegen ebenso wie die Beendigung des Kriegs in Afghanistan. Und: Er distanziert sich von der Breschnew-Doktrin, die die Souveränität der sozialistischen Länder begrenzte. Den Warschauer-Pakt-Staaten ist es fortan erlaubt, ihre inneren Angelegenheiten souverän zu regeln. Die Politik Gorbatschows erhält später den scherzhaften Namen „Sinatra-Doktrin“. Ganz nach Frank Sinatras berühmtem Lied „I Did It My Way“ dürfen Staaten wie Ungarn und Polen nun ihren eigenen Weg gehen.

Moskaus neues Auftreten in der Welt lässt das Eis zwischen Ost und West schmelzen, und auch Westdeutschland knüpft neue Kontakte. 1987 fliegt der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß zu Gorbatschow, von dessen Reformvorstellungen er tief beeindruckt war. „Die Reise von Strauß nach Moskau brachte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der CSU und Bayern mit der Sowjetunion und später Russland“, erinnert sich viele Jahre später der CSU-Vordenker Wilfried Scharnagl, der Strauß nach Moskau begleitet hatte. „Moskau war davor für Strauß die zentrale Bedrohung Europas und Deutschlands. Danach meinte er, dass es ja irgendwann vielleicht einmal dazu komme, dass der russische Bär und der bayerische Löwe gemeinsam auf einer Wiese äsen könnten.“ Beide – Strauß und Gorbatschow – waren durch ihre Politik zu Wegbereitern geworden: Gorbatschow, dass sich die Sowjetunion zur Freiheit befreite – Strauß, dass der Westen durchgehalten hat, bis Gorbatschow kam.

Bei der Feier zum 40. Jahrestag der DDR sagt Michail Gorbatschow den Satz, der später zum geflügelten Wort werden soll. Sein Plädoyer für die Unvermeidbarkeit von Reformen begeistert die Massen. Unter den vielen Anhängern in der DDR für Gorbatschows neuen Weg steht auch eine junge Frau, die Angela heißt. Als kurz darauf die Menschen in der DDR für Reformen auf die Straße gehen und das gewendete Politbüro in einer Nacht der größten Veränderung die Mauer öffnet, macht Gorbatschow die Vollendung der friedlichen Revolution in der DDR möglich. Und die deutsche Wiedervereinigung gleich dazu. Und er beendet den Kalten Krieg. 1990 erhält Gorbatschow den Friedensnobelpreis. Die Sowjetunion geht in einer Vielzahl souveräner Staaten auf – darunter ein neues Russland, befreit von der Geißel des kommunistischen Totalitarismus. Als Konsequenz wird Gorbatschow seine Macht und alle seine Ämter abgeben. Aber was ist das schon – er hat der Menschheit des 20. Jahrhunderts zu einer Sternstunde verholfen.

Ein Jahr später treffe ich den ehemaligen Staatschef zum ersten Mal. Damals darf ich Gorbatschow im weltberühmten Hofbräuhaus in München begrüßen. Zum traditionellen Fischessen der CSU. Dort schwärmt Gorbatschow von seinen Begegnungen mit Franz Josef Strauß und erntet tosenden Beifall. Die Zeit schreibt damals: „Jubel im Saal, Jubel draußen, der Prophet, der im eigenen Lande nichts mehr gilt, genoss den Freudentaumel seiner deutschen Verehrer, schüttelte Hände, winkte, ließ sich küssen und umarmen – gerührt, beflügelt, dankbar.“

Lenin war in seiner Münchner Zeit ebenfalls im Hofbräuhaus zu Gast. Seine Frau lobte in ihrem Tagebuch das „Platzl“ als Ort, „wo das gute Bier alle Klassenunterschiede verwischt“. Mit Gorbatschows Besuch waren somit der erste und der letzte Vorsitzende der KPdSU Gäste in dieser Münchner Institution.

Ein knappes Vierteljahrhundert später treffe ich Gorbatschow erneut. Es ist die Buchvorstellung meines Freundes Wilfried Scharnagl in Moskau – mitorganisiert vom Deutsch-Russischen Forum und dem Berliner Verleger Detlef Prinz. In seinem Werk mit dem Titel „Am Abgrund. Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland“ kritisiert Scharnagl die deutsche Russlandpolitik scharf und wirbt für eine Politik der Chancen und Möglichkeiten zur Verständigung. Er fordert ein „Weg von der antirussischen Einseitigkeit“ und eine Partnerschaft mit Russland auf Augenhöhe. Das Buch ist ein flammendes Plädoyer dafür, die historische Chance, die durch Gorbatschows Glasnost und Perestroika geschaffen wurde – diese Sternstunde der Menschheit – nun endlich zu nutzen.

Das Buch des Strauß-Intimus Scharnagl wird vorgestellt von Egon Bahr, dem Adepten von Altkanzler Willy Brandt – und Gorbatschow, der auch ein Vorwort zum Buch geschrieben hat. In diesem zeigt er sich von den Entwicklungen der Ost-West-Beziehungen enttäuscht und spricht von einem „Zusammenbruch des Vertrauens“.

Beide haben Recht, und es gehört zu den großen Versäumnissen unserer Politik, dass sie die historische Chance, die durch Glasnost und Perestroika entstanden war, bis zum heutigen Tage nicht wirklich genutzt hat – auch die junge Frau nicht, die damals eine große Anhängerin Gorbatschows war. Ob dahinter die Angst vor den Idealen ihrer Jugend steckt, wissen wir nicht. Angesichts des starken Willens zum Missverständnis in den westlichen Mainstream-Medien wäre das zumindest verständlich.

Bei der Buchvorstellung in Moskau sagte Bahr: „2015 ist Deutschland der politisch und wirtschaftlich stärkste Faktor in Europa geworden. Aber militärisch, zur Beruhigung unserer vielen Nachbarn, sind wir keine Bedrohung. Wir könnten also wie zu Beginn der Entspannungspolitik sondieren und beginnen, einseitig Sanktionen gegen Russland abzubauen.

Wir wollen wie damals eine festgefahrene Situation ändern und könnten bei einer positiven Resonanz auch alle Sanktionen beenden. Das liegt in unserer Kompetenz und entspricht unserem Interesse, auch dem unserer Wirtschaft. Ja, das sind Vorleistungen. Sie erinnern an das Wort von Brandt: „Manchmal muss man sein Herz am Anfang über die Hürde werfen. Das war damals schwerer als heute.“

Zum Schluss kam noch eine Mahnung Gorbatschows: „Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen diesen Graben wieder schließen.“ Sein Lebenswerk, seine Sternstunde der Menschheit, sollte ins 21. Jahrhundert hinüberleuchten können. So erinnern wir uns zu seinem 90. Geburtstag alle zusammen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Herzlichen Glückwunsch!

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