Scholz’ außenpolitische Zeitenwende droht schon wieder zu verpuffen. Das geht auch auf Kosten der deutschen Führungsrolle in Europa
Scholz’ außenpolitische Zeitenwende droht schon wieder zu verpuffen. Das geht auch auf Kosten der deutschen Führungsrolle in Europa
Der symbolträchtige Kanzlerbesuch in Kiew? Verschoben auf unbestimmte Zeit. Die Verteidigungsministerin? Kämpft gedanklich eher mit schlechter Presse statt mit russischen Aggressoren. 15 einsatzfähige „Gepard“-Flugabwehrpanzer? Gehen erst Mitte Juli auf die Reise in die Ukraine – nach ausreichender Munition wird noch gefahndet. Die Gespräche der Ampel-Koalition mit den Unionsparteien, um das angekündigte „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro im Grundgesetz zu verankern? Ziehen sich hin.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine seine berühmte Zeitenwende-Rede hielt, erhielt er dafür viel Beifall. Doch seitdem hakt es. Dabei war die Rede vor allem ein Befreiungsschlag. Kein anderes Land von vergleichbarer Größe und Gewicht hatte die „Friedensdividende“ seit dem Mauerfall so großzügig eingestrichen wie Deutschland. Das Ergebnis: Als Wladimir Putin den Befehl zur großangelegten Invasion des Nachbarstaats gab, um ihn zu zerschlagen, stand die Bundeswehr in den Worten von Heeresinspekteur Alfons Mais „mehr oder weniger blank da“.
Dass der Handlungsbedarf dringend und gewaltig ist, war seit Jahren klar – nur gab es keinen ausreichenden politischen Willen in den von Bundeskanzlerin Angela Merkel geführten Regierungen, das Problem anzugehen. Dafür sorgte erst Putins mörderischer Angriffskrieg – und ein gewisser Überrumplungseffekt, für den das unter starken Druck geratene Kanzleramt sorgte. Der sicherheitspolitische Big Bang von Scholz stellt für die nächsten vier Jahre nun erst einmal ausreichend Geld zur Verfügung, damit die Bundeswehr wieder wirklich einsatzfähig wird und die defizitäre deutsche Außenpolitik auch eine militärische Dimension gewinnen kann. Sehr viel weiter, das sollte man ehrlicherweise festhalten, reicht das Ganze bislang nicht.
Die Zeitenwende in die Tat umzusetzen oder zumindest Scholz’ beindruckendem ersten Akt einen plausiblen zweiten folgen zu lassen, damit müht sich die Regierung nun seit Wochen. Insgesamt wirkt der Versuch der Bundesregierung immer noch ein wenig unentschlossen. Warum?
Da ist zum einen der Kanzler. Zwar hat Scholz mit seiner Rede zum 77. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai die Ratio außenpolitischen Handelns der Bundesrepublik noch einmal weiterentwickelt, als er – völlig richtig – aus dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus die deutsche Verpflichtung ableitete, heute der Ukraine zur Seite zu stehen. Doch bei den Antworten auf das „Wie?“ beginnen die Schlangenlinien.
Der anfängliche Zweifel, was die Bereitstellung auch schwerer Waffen anging, und der mindestens unglückliche argumentative Verweis darauf, man müsse ja auch darauf schauen, keinen Atomkrieg zu riskieren, hat die öffentliche Unterstützung so weit bröckeln lassen, dass aus einem klaren „Ja“ für die Lieferung auch von Panzern und Flugabwehrgeschützen in Meinungsumfragen ein Patt wurde. Und es fehlt weiterhin sowohl der empathische Schulterschluss mit Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew als auch die rhetorische Arbeit, die Zeitenwende und die europäisch, transatlantisch und im G7-Rahmen eingebettete Ukraine-Politik den Wählerinnen und Wählern zu erklären. (Dass das gerade der SPD eher nicht hilft, war zuletzt bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu erleben.)
Dann ist da die Verteidigungsministerin. Schon die geräuschfreie Übernahme der Amtsgeschäfte am Bendlerblock misslang Christine Lambrecht. Und seitdem ist es nicht wirklich besser geworden. Zwar hakt das Bundesverteidigungsministerium seitdem manch lange gehegten Wunsch der Truppe ab – amerikanische F-35-Jets zur Fortsetzung der „nuklearen Teilhabe“ im Nato-Rahmen, bewaffnete Drohnen zum Eigenschutz der Truppe –, doch weder zur Ukraine-Politik noch der Zeitenwende insgesamt hat man von der Ministerin bislang ein wegweisendes Wort gehört.
Und dann sind da Teile der SPD-Fraktion (und auch der Grünen), personifiziert von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Der Friedens- und Abrüstungspolitiker nannte zwar gleich am 24. Februar den russischen Präsidenten deutlicher als andere einen „Kriegsverbrecher“. Doch daraus die logischen Konsequenzen zu ziehen und Abschied von liebgewordenen Überzeugungen zu nehmen, fällt ihm sichtlich schwer. „Die Zeitenwende ist jetzt da, und damit sind bei mir eine Reihe vermeintlicher Gewissheiten zerbrochen“, sagte Mützenich dem Spiegel. Aber dass allein ein verbrecherisches Regime in Moskau schuld an der Lage sein könnte, überzeugt manche auf dem linken Flügel bis heute nicht.
Nachdem die SPD-Fraktion beim Sondervermögen und bei der Entscheidung für die Lieferung auch schwerer Waffen vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, schicken sich manche an, mit bedenkenträgerischen Einwänden die Zeitenwende zu verlangsamen oder für die eine oder andere durch Putin längst überholte Überzeugung noch ein bisschen weiterzukämpfen. Das Zwei-Prozent-Ziel solle nicht festgeschrieben, nicht das ganze Sondervermögen für hard power ausgegeben werden – letzteren Symbolismus, der für Deutschlands Partner ein fatales Signal wäre, hätten auch manche Grünen gern.
„Allein auf Rüstung zu setzen, das gehört der Vergangenheit an“, wird Mützenich im Spiegel zitiert – was grundsätzlich richtig, aber, um den Kanzler zu zitieren, „aus der Zeit gefallen ist“. Denn sehr lange eben nicht auf Rüstung gesetzt zu haben, das hat Deutschland erst in die heute so dramatische Situation manövriert, in der die Bundesrepublik, zweitgrößtes Geberland von Entwicklungshilfe hinter den Vereinigten Staaten, nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist. Davon zeugen viele der regierungsseitig vorgebrachten Begründungen, warum die Unterstützung für die Ukraine nicht noch robuster und engagierter ausfallen könne.
Und schließlich mangelt es an strategischem Denken. Stattdessen geht offenkundig die Furcht davor um, es gegen Putin zu weit zu treiben. Wenn US-Präsident Joe Biden von seiner Hoffnung spricht, Russlands ewiger Präsident, für Kriegs- und Menschheitsverbrechen verantwortlich, könne nicht im Amt blieben, oder US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärt, es ginge nun auch darum, Russlands militärische Fähigkeiten zu schwächen, lässt das in Berlin offenbar die Alarmglocken schrillen. Dann werden schnell schrille Szenarien aufgemacht, in denen der Atomwaffenstaat Russland zerfällt. Dabei ist die Wiederherstellung des Status quo ante, also der jüngsten Ausgangslage vor dem 24. Februar, der einzige Weg, um zu demonstrieren, dass Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg keinen Erfolg hat und Deutschland und seine Verbündeten in der Lage sind, eine internationale Ordnung zu verteidigen, die auf Recht und nicht auf Macht basiert.
Ein großes Problem des gemächlichen Berliner Tempos bei der eigenen sicherheitspolitischen Wende ist, dass es schon jetzt zu großem Vertrauensverlust gerade unter Deutschlands östlichen Nachbarn geführt hat. Damit schrumpfen auch die deutschen Möglichkeiten, in Europa eine Führungsrolle zu übernehmen. Während sich die deutsche Politik noch um die eigene Achse dreht, nehmen die Konturen einer neue Sicherheitsarchitektur für Europa anderswo Gestalt an. Berlin steht an der Seitenlinie – leider immer noch.