Deutschland braucht Mut, sich einigen Fragen mit neuem Realismus zu stellen
Deutschland braucht Mut, sich einigen Fragen mit neuem Realismus zu stellen
Auch wenn es noch Tage dauern mag, bis die letzte Stimme ausgezählt worden ist: Der von den meisten Beobachtern, vor allem in Europa, erwartete Anti-Trump-Tsunami ist bei den amerikanischen Wahlen ausgeblieben. Beiden Lagern gelang es, mehr als bei früheren Wahlen, ihr Stimmenpotential weiter auszuschöpfen. Ein hoher Grad an Wählermobilisierung (und Emotionalisierung) ist an sich zwar gut für die Demokratie; sie führt Amerika jetzt aber auch in einen Stresstest für die demokratischen Institutionen. Es wird nicht an Versuchen fehlen, einige der abgegebenen Stimmen auf juristischem Weg zu entwerten. Dringend zu hoffen bleibt, dass militante Gruppen nicht der Versuchung erliegen werden, Gewalt in die Straßen amerikanischer Städte zu tragen.
Dennoch bin ich auf Grund meiner Erfahrungen in den USA optimistisch, dass die amerikanische Demokratie am Ende auch diesen Stresstest bestehen wird.
Für uns Europäer aber gibt das überraschende Wahlverhalten in den USA schon jetzt Grund zu neuem Nachdenken. Selbst wenn Joe Biden am Ende Präsident werden sollte, müssen wir realisieren, dass in dem Denken eines großen Teils der amerikanischen Wählerschaft die Trumpsche Losung „America First“ – noch immer oder erneut – Widerhall gefunden hat.
Sich jetzt auf den Standpunkt zurückzuziehen, irgendwie würden wir auch so die nächsten vier Jahre überstehen, erinnert an das Pfeifen im Walde. Wir müssen uns daran erinnern, dass der historische Strategiewechsel Washingtons hin zu den wirtschaftlichen Chancen und den strategischen Risiken Ostasiens schon unter Barack Obama begann. Der Zeitgeist arbeitet gegen unser Bündnis über den Atlantik.
Die offensichtliche Antwort hierauf ist der Ruf nach der Stärkung der Institutionen und der Identität Europas. Dies ist aber leichter gesagt als getan: Solange innerhalb der EU in zentralen Fragen kein Konsens besteht, kann man lange warten, bis Europa als ernst zu nehmende militärische und außenpolitische Einheit in der Welt auftritt. Ich bezweifele, dass die Welt uns hierfür die Zeit geben wird.
Deutschland braucht daher den Mut, sich einigen Fragen mit neuem Realismus zu stellen: Wie steht es auf mittlere Sicht um unsere Sicherheit in einer Welt, in der wir noch knapp ein Prozent der Erdbevölkerung stellen und in der Konflikte inner- wie zwischenstaatlich zunehmend mit Gewalt ausgetragen werden?
Wie können wir verhindern, dass wirtschaftliche Interessengegensätze wie etwa der deutsche Exportüberschuss mit den USA so eskalieren, dass der strategische Zusammenhalt gefährdet wird? Als Trump uns kürzlich wegen der deutschen Auto-Exporte in die USA mit einer Art Mini-Handelskrieg drohte, musste ich mit Bedauern an das Scheitern des Projekts einer transatlantischen Freihandelszone (TTIP) denken, das uns geholfen hätte, wirtschaftliche Interessen im Vorfeld in Einklang zu bringen. Sollte Biden Präsident werden, wäre dort Raum für eine neue deutsche Initiative, nicht nur aus wirtschaftlichem, sondern vor allem auch aus strategischem Interesse.
Wir sollten uns auch fragen, wie sich das Verhältnis zwischen Hard und Soft Power in der Welt von morgen künftig ausbalanciert. Deutschland, das zu Recht und auch auf Grund vertraglicher Beschränkungen aus dem 2+4-Vertrag vor allem auf Soft Power und seine Vorbildrolle bei globalen Fragen setzt, sieht sich heute den Trumps, den Xis, den Putins und den Erdogans dieser Welt gegenüber, für die Hard Power immer mehr zu dem Instrument der Außenpolitik wird. Das Gesicht von Hard Power sind dabei nicht mehr nur Panzer und Raketen, sondern auch komplexe, oft sehr wirkungsvolle Sanktionen wirtschaftlicher, technologischer und finanzpolitischer Art, die das Potential haben, ganze Volkswirtschaften auf die Knie zu zwingen. Hinzu kommt der militärische Graubereich von Cyberangriffen, deren Möglichkeiten heute kaum absehbar sind.
Eine nüchterne Analyse zeigt, dass wir um eine Revitalisierung unserer Bindung an die USA, der einzigen westlichen Macht mit entsprechendem Hard-Power-Potential, nicht herumkommen. Unter Trump haben die USA weltweit an Ansehen und damit an Soft Power verloren. Ein Präsident Biden wird versuchen, verlorenen Boden zurückzugewinnen. Deutschland hätte dabei etwas anzubieten.