Kolumne | Direktnachricht
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Shocking but not surprising. Ein an die Presse durchgestochener Entwurf des Obersten Gerichtshofs bestätigt nun die schlimmsten Ängste aller, die sich in den USA für reproduktive Gerechtigkeit einsetzen. Fünf der neun Obersten Richter_innen könnten damit bald das seit 1973 bestehende Grundsatzurteil Roe v. Wade, das Recht auf Abtreibung, kippen.
Der Angriff auf Roe ist Teil einer koordinierten Attacke auf die körperliche Selbstbestimmung, die sich schon in zahlreichen Beschneidungen beim Zugang zu Abtreibungen zeigte. In Texas gipfelten diese im SB8-Gesetz, das einen Abbruch nach der sechsten Woche verbietet. Zu diesem Zeitpunkt wissen die meisten noch nicht einmal, dass sie überhaupt schwanger sind. Hinzukommt ein perfides Anreizsystem, um Betroffene zu denunzieren: Für jede Person, die gegen das Gesetz verstößt und erfolgreich vor Gericht gebracht wird, zahlt der Bundesstaat ein Kopfgeld.
Bereits vorher wurden vor allem trans* Personen zum Kanarienvogel im US-Kohlebergwerk, die davor warnten, dass es eben nicht bei bloßer schrecklicher Kulturkampfrhetorik der religiösen Rechten bleiben würde. 2021 wurden 191 queerfeindliche Gesetzesinitiativen eingereicht, die Hälfte davon gegen die körperliche Selbstbestimmung von trans* Personen gerichtet. In diesem Jahr wuchs die Zahl auf 240 Gesetzesvorlagen – eine davon soeben beschlossen von Alabama. Als erster US-Staat machte man dort die lebenswichtige medizinische Versorgung für trans* Kinder und Jugendliche zur Straftat.
Mit der Aussicht, Roe v. Wade abzuschaffen, fordern diverse republikanische Politiker_innen nun außerdem, Verhütungsmittel zu verbieten, den Gebrauch von Abtreibungspillen zu kriminalisieren oder gar ein landesweites Abtreibungsverbot zu erlassen. Auch Grundrechte wie die gleichgeschlechtliche Ehen, die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen und die Entkriminalisierung von Homosexualität könnten nach dem Wegfall von Roe wegbrechen. Es sei erst der Anfang dieses langatmigen, christlich-nationalistischen Projekts, kommentierte die Historikerin Annika Brockschmidt: „Wir erleben gerade wieder: Rechte tun, was Rechte ankündigen zu tun. Das scheint für viele politische Beobachter immer noch eine Überraschung zu sein. Gleichzeitig sehen wir immer noch Verharmlosungen – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“
Zu viele Menschen, die nicht direkt dagegen arbeiten, betrachten Geschlechtergerechtigkeit fälschlicherweise als linearen Prozess. Als liefe dieser, einmal angestoßen, wie eine Reihe Dominosteine problemlos bis zum Ende weiter. Doch handelt es sich hier weder um eine Selbstverständlichkeit noch um einen Selbstläufer. Geschlechtergerechtigkeit muss stattdessen immer wieder erkämpft werden. Nach wie vor wird sie von unsinnigen Hürden ausgebremst, brutal zurückgedrängt, und selbst errungene Meilensteine stehen in der Gefahr, wieder wegzubrechen.
Solange wir nicht alle selbstbestimmt über unsere Körper entscheiden dürfen – ob nun cis Frau, trans Person, intergeschlechtlich, behindert, of color, Schwarz … –, sind wir weder ganz sicher noch frei, sondern immer auch patriarchale Verhandlungsmasse.