Titelei

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Franziska Giffey wankt. Ihre Doktorarbeit wird erneut auf Plagiate geprüft. Es kann gut sein, dass sie den Titel bald nicht mehr führen darf. So viel Glück, wie vor gut vier Jahren der heutigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beschieden war, die ungeachtet des Plagiierens auf 27 von insgesamt 62 Seiten ihrer medizinischen Dissertation den Zusatz „Dr.“ – aus welchen Gründen auch immer – nicht aberkannt bekam, dürfte Giffey wohl nicht zuteil werden. Dass sie den Titel nicht mehr will, hat sie öffentlichkeitswirksam bereits verkündet, um damit ihr politisches Aus zu vereiteln. Es war die Flucht nach vorn. Nicht ganz unrecht hat sie, wenn sie schreibt, der Wert ihrer politischen Arbeit heute oder morgen könne nicht nur daran bemessen werden, ob sie vor langer Zeit geschludert oder gar betrogen hat.

Wie auch immer die Sache ausgeht – für die Wissenschaft in Deutschland ist jede Zweifelhaftigkeit einer Dissertation ein Fall zu viel. Denn es steht sehr viel mehr als nur die Karriere eines Polit-Talents auf dem Spiel.

Forschung lebt von unbedingter Ehrlichkeit, ein Forschungsstandort vom Fleiß, der Akribie und Genauigkeit, der Neugierde und dem Erkenntnisdrang seiner Wissenschaftler. Dafür ist der Gebrauch von Quellen unerlässlich. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen auf Basis früherer Forschungsergebnisse und sind nur dann valide, wenn ihre Genese von allen nachvollzogen werden kann, um wiederum neue Erkenntnisse daraus zu gewinnen. Genau deswegen ist akkurates Zitieren unerlässlich. Dabei ist Wissenschaft kein Selbstzweck. Sie soll, ja, muss die Gesellschaft, im besten Fall sogar die Menschheit weiterbringen.

Dissertationen, die primär des Titels wegen geschrieben werden, sind mehr als nur ein Ärgernis. Zweifelhafte Beispiele dafür gibt es reichlich, bei denen durchaus in Frage steht, ob den Forschenden tatsächlich am Erkenntnisgewinn gelegen war. Erkenntnisgewinn braucht Zeit, häufig mehr, als zu Beginn des Vorhabens veranschlagt. Zeit, die weder Franziska Giffey noch ein Karl-Theodor zu Guttenberg bereit waren einzusetzen. Die Anfälligkeit fürs Plagiieren ist bei derartigen Unterfangen bekanntlich besonders hoch.

Eine gewisse „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“, die der Künstler Bertolt Brecht einst einräumte, weil er für seine Dreigroschenoper ein paar Lieder ohne Quellenangabe verwendete, ist kein Versehen und kein Kavaliersdelikt – schon gar nicht in der Wissenschaft. Denn sie unterminiert das Wissenschaftssystem und bringt die Forschung in Gefahr. Darin liegt das eigentliche Drama um windige Doktorarbeiten wie etwa die von Giffey, die irgendwann mal ohne eingehende Prüfung die Hürde genommen haben, deren Zustandekommen die Universitäten im Nachhinein aber gar nicht akribisch genug aufarbeiten können.

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