Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Jetzt im Winter, wenn es dunkel wird, sich die weltpolitische Lage so düster ausnimmt und die Wohnungen aufgrund der Energiekrise um drei Grad heruntergekühlt werden, muss man von Sonnenstrahlen träumen und von den Farben. So wie Frederick, die wohl berühmteste Dichtermaus der Welt, die in dem gleichnamigen Buch das Herz ihrer Artgenossen und das von Millionen minderjährigen Lesern alljährlich im Winter durch die Kraft der Imagination erwärmt.
Es kann in krisenhaften Zeiten tatsächlich helfen, sich „warme Gedanken zu machen“. Nicht nur als Kind, viel mehr noch als Erwachsener. Nur, wie soll das gehen, wo wir doch abgeklärt und ausgekühlt die versteckte edukativ-philosophische Botschaft der Dichtermaus längst durchschaut haben?
Hier wäre ein Vorschlag – für Erwachsene und ganz ohne Hintergedanken: Imaginieren wir uns in den Sommer und träumen von den Vögeln. Und weil das so einfach nicht ist, weil man sie derzeit kaum zu hören bekommt, könnten wir uns ebenfalls mit einem Büchlein behelfen, das unlängst – warum auch immer zu Beginn der dunklen Jahreszeit – erschienen ist: Wanderer zwischen den Welten. Was Vögel in Städten erzählen Die Evolutionsbiologin Caroline Ring schreibt darin hingebungsvoll über ihre urbanen Streifzüge auf der Suche nach den flatternden Kreaturen.
Bevor man sich versieht, ist man mittendrin in der Vogelwelt und liest allerlei Erstaunliches. Zum Beispiel, dass immer mehr Vögel in die großen Städte ziehen, die so zu Inseln der Vogelvielfalt heranreifen, weil die von Agrar-Monokultur geprägte Landwirtschaft den Vögeln nicht mehr genug bietet. Gerade dort also, wo der Verkehr über die Zeit die Fassaden schwärzt, die Straßenbeleuchtung den Himmel nie ganz dunkel werden lässt und der Lärm täglich unerträglich anschwillt, ist ziemlich viel los. So viel, dass Ornithologen daraus einen Witz kreiert haben: Wohin schickt man jemanden, der in Deutschland die Vogelwelt erkunden will? Nach Berlin, in Deutschlands mit Abstand größte und schmuddeligste Metropole. Zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Vogelarten sind dort zuhause. Noch erstaunlicher, dass sich allsommerlich vor allem die Nachtigall in der Hauptstadt niederlässt – nirgends sonst gibt sie so zahlreich wie an der Spree, wenn sie nicht gerade in Ghana überwintert.
Warum eigentlich? Ein besonderes Nachtigallenprogramm kann sich die chronisch klamme Hauptstadt nicht leisten. Und besonders viele Grünflächen weist sie gegenüber Hamburg oder Stuttgart auch nicht auf. Den Vögeln ist das Geld egal, aber sie lieben das Chaos, wenn es aus allen Spalten und Ritzen unordentlich sprießt. Hier ist Berlin den glatt gebürsteten Städten des wohlhabenderen Südens überlegen. Aus München verschwinden sogar die Spatzen.
Während man weiterliest und sich die Brennnesseln vorstellt, die unfrisierten Buchenhecken oder die unsäglichen Knallerbsenbüsche, in denen sicher ein Zaunkönig hockt, dann ist plötzlich der Sommer ganz nah, obwohl er sich gerade verabschiedet hat. Legen wir uns dieses einmalige Vogelbüchlein also mit Beginn des Winters auf den Nachttisch und lesen immer mal wieder darin. Nicht nur über Nachtigallen, sondern auch über Uhus, Mauersegler, Amseln, Grünspechte, Haubenlerchen und Halsbandsittiche, die dann in unserer Vorstellung zu zwitschern beginnen und mit jedem weiteren Kapitel immer präsenter werden, bis ganz langsam die Wärme und die Farben aufsteigen.