Umschaltspiel

1954 – 1974 – 1990 – 2014 – stehen die vier Triumphe symbolhaft für die „Berner“, „Bonner“, „Berliner“ und „Bunte Republik“?

19
11
PICTURE ALLIANCE/NORBERT SCHMIDT
Inschriften an der Autobahnbrücke der A 40, in Erinnerung an den Essener Helmut Rahn, der im Fußball-WM Finale 1954 in Bern in der Schweiz das entscheidende Tor erzielte.
19
11
PICTURE ALLIANCE/NORBERT SCHMIDT
Inschriften an der Autobahnbrücke der A 40, in Erinnerung an den Essener Helmut Rahn, der im Fußball-WM Finale 1954 in Bern in der Schweiz das entscheidende Tor erzielte.

Umschaltspiel

1954 – 1974 – 1990 – 2014 – stehen die vier Triumphe symbolhaft für die „Berner“, „Bonner“, „Berliner“ und „Bunte Republik“?

Im reichen Emirat Katar, einem autoritär regierten islamischen Land, findet vom 20. November bis zum 18. Dezember 2022 die 22. Fußballweltmeisterschaft statt. Die Erinnerung an die Siege der deutschen Elf lebt in diesen Tagen auf: 1954, 1974, 1990 und 2014 gelang unter Sepp Herberger, Helmut Schön, Franz Beckenbauer und Joachim Löw dank der entscheidenden Tore durch Helmut Rahn, Gerd Müller, Andreas Brehme und Mario Götze der Titelgewinn. Stehen diese vier Erfolge symbolhaft für die plakativen Begriffe der „Berner Republik“, der „Bonner Republik“, der „Berliner „Republik“ und der „Bunten Republik“?

1954, am 4. Juli, besiegte der krasse Außenseiter Deutschland den Favoriten Ungarn nach einem frühen 0:2-Rückstand im schweizerischen Berner Wankdorfstadion mit 3:2. Gewiss gab es den einen oder anderen nationalistischen Überschwang. Das gilt nicht für die deutschen Schlachtenbummler, die im Siegestaumel reflexartig die erste Strophe des Deutschlandliedes anstimmten, obwohl Bundespräsident Theodor Heuss 1952 nur die dritte zur Nationalhymne erklärt hatte, jedoch für eine Rede von Peco Bauwens, den Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes. Der Sieg löste im ganzen Nachkriegsdeutschland vorübergehend ein „Wir sind wieder wer“-Gefühl aus. Allerdings wohnte kein hiesiger Politiker dem Spiel bei – die Glückwunschtelegramme des Bundespräsidenten Heuss wie des Bundeskanzlers Adenauer fielen merkwürdig kurz und zurückhaltend aus, vielleicht aus Vorsicht vor dem Aufkommen nationalen Getöses.

Das „Wirtschaftswunder“ trug stärker zur Akzeptanz des Landes und zur Aufbruchstimmung bei als das „Wunder von Bern“. Und wer schon auf ein bestimmtes Ereignis abstellt: Viel mehr bewegte die Deutschen ein Jahr später die Rückkehr von 10 000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, erreicht durch Adenauer, der im Gegenzug diplomatische Beziehungen mit Moskau aufnahm. Mithin dürfte das Wort Joachim Fests vom Gründungstag einer „Berner Republik“ weit überzogen sein, denn der Sieg im „Proletensport“ geriet bald in Vergessenheit. Der Mythos um die „Berner Helden“ entstand später, nicht zufällig erst unter der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Gerhard Schröder. Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ aus dem Jahr 2003 verlieh alldem Ausdruck.

1974 bezwang die bundesdeutsche Mannschaft am 7. Juli in München die niederländische mit 2:1, und das nach einem Elfmetertor des Gegners in der allerersten Minute. Ihm folgte der Ausgleich durch einen Elfmetertreffer Paul Breitners, Gerd Müller, der „Bomber der Nation“, erzielte das Siegestor. Obwohl das Duell der beiden deutschen Staaten als Politikum galt, stand bei der Weltmeisterschaft im Westen nicht der „Wettkampf der Systeme“ im Vordergrund. Die DDR-Mannschaft schlug zur Überraschung aller die bundesdeutsche dank eines Tores von Jürgen Sparwasser mit 1:0. Am meisten geschmerzt haben dürfte die Niederlage den gebürtigen Dresdner Helmut Schön, einen wahrhaft gesamtdeutschen Trainer: zunächst der Ostzonen- und der DDR-Auswahl (1949-1950), dann des Saarlandes (1952-1956) und schließlich der bundesdeutschen Mannschaft (1964-1978).

Ist der Sieg 1974 charakteristisch für die „Bonner Republik“? Die Spieler sangen nicht die Nationalhymne – Paul Breitner empfand den Gesang gar als störend bei der Konzentration auf das Spiel. Zu jener Zeit der Selbstanerkennung der Bundesrepublik Deutschland trug diese nicht mehr die Züge eines Provisoriums, Patriotismus schien überholt. Die DDR, die im selben Jahr alle Anklänge an die deutsche Nation aus der Verfassung gestrichen hatte, war im Westen ein nahezu unbekannter Nachbar. Jack Whites WM-Lied „Fußball ist unser Leben“, das die bundesdeutschen Fußballer in geselliger Runde anstimmten, fehlte jeder Deutschlandbezug. Trotz des Triumphes auf heimischem Boden ging er nicht in das kollektive Gedächtnis der Nation ein.

Am 8. Juli 1990 in Rom, knapp drei Monate vor der Wiedervereinigung, schlug die bundesdeutsche Mannschaft die argentinische mit 1:0, dank eines verwandelten Elfmeters von Andreas Brehme. Teamchef Franz Beckenbauer, dem die Trainerlizenz fehlte und der die „Leichtigkeit des Seins“ verkörperte, erwies seinem Nachfolger Berti Vogts auf der Pressekonferenz nach dem Sieg mit folgenden Worten einen Bärendienst: „Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird.“ „Kaiser Franz“, die Lichtgestalt des deutschen Fußballs, war nicht nur doppelter Weltmeister (als Spieler und als Teamchef), sondern auch maßgeblich verantwortlich für die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 nach Deutschland. Dies machte das „Sommermärchen“ möglich und später eine – nunmehr abgeschlossene – Untersuchung zu den finanziellen Hintergründen nötig. Die wohl zwielichtige Rolle Beckenbauers („Ich habe immer blind unterschrieben“) blieb unaufgeklärt.

Für manche symbolisierte der Erfolg den Beginn der „Berliner Republik“ noch vor der staatsrechtlichen Einheit. Autokorsos in vielen deutschen Städten und fahnenschwenkende Fans kündigten in ihrer Unverkrampftheit im Jahr der Wiedervereinigung einen Mentalitätswandel an. Nationale Symbole – die Spieler sangen vor dem Spiel großenteils die Hymne mit – erfuhren nach und nach eine stärkere Akzeptanz, ohne chauvinistisches Gehabe.

Am 13. Juli 2014 gelang nach dem fulminanten 7:1-Sieg im Halbfinale über die Seleção, den Gastgeber, der Titelgewinn in Rio de Janeiro. Lionel Messis Albicelestes unterlagen im Endspiel 0:1 wie 1990 die Diego Maradonas, diesmal in der Verlängerung, dank des Tores von Götze, ebenso eingewechselt wie der Torvorbereiter André Schürrle. Zum Erfolg der deutschen Nationalelf im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel trugen Spieler mit Migrationshintergrund bei, etwa Jérôme Boateng, Sami Khedira und Mesut Özil. Das rief weder im Team noch bei den Fußballfans, den einheimischen wie zugewanderten, Probleme hervor.

Die „Bunte Republik“ ist eine Metapher für forcierte Immigration. Was beim Fußball funktionierte, traf weniger auf das gesellschaftliche Leben zu. Deutschland, das lange kein „Einwanderungsland“ sein wollte, firmiert „draußen“ als „gelobtes Land“, wie nicht erst 2015 die Flüchtlingswelle bewiesen hat. Ein Jahr nach dem Titelgewinn erhielt die Nationalauswahl den Markennamen „Die Mannschaft“. Da die Fans damit wenig anfangen konnten, schaffte der Deutsche Fußball-Bund im Juli 2022 dieses blutleere Logo als Bezeichnung für die deutsche Fußballelf wieder ab.

Plakativen Begriffen wie „Berner Republik“, „Bonner Republik“, „Berliner Republik“ und „Bunte Republik“ mag mit Blick auf die Fußballsiege ein Symbolwert innewohnen, zur Charakterisierung des Staatswesens sind sie ungeeignet. Gewiss, die Bundesrepublik Deutschland hat sich gegenüber 1949 vielfach gewandelt, doch wer von Nach-, Um- und Neugründungen spricht, trägt dazu bei, die hiesige Demokratie, wie sie 1949 entstanden ist, indirekt zu delegitimieren, ob absichtlich oder nicht.

„König Fußball“, wohl die populärste Sportart der Welt, stiftet Gemeinschaft, die einfachen Regeln, das „Runde muss ins Eckige“, fördern Kommunikation. Was paradox anmutet: Gerade durch die magere Torausbeute ist das Spiel umso interessanter und der Ausgang umso unberechenbarer. Aber Fußball, mehr als die schönste Nebensache der Welt, kann ebenso Streitigkeiten hervorrufen. Schlüsselspiele prägen das kollektive Bewusstsein einer Nation: Dem „Wunder von Bern“ auf deutscher Seite entsprach die „Wunde von Bern“ auf ungarischer. Für manche Historiker wurzelt der ungarische Aufstand 1956 in der Fußballkatastrophe der damals als unschlagbar geltenden „Wunderelf“ von 1954. Die Magyaren denken beim „dritten Tor“, das wegen Abseits nicht zählte, obwohl es nach ungarischer Ansicht eines war (Magnetbandaufzeichnungen fehlen), an das ihres Idols Ferenc Puskás im Endspiel 1954, direkt nach dem Rahn-Treffer zum 3:2. Wenn die Deutschen sich über das „dritte Tor“, das „Wembley“-Tor, das zählte, obwohl es nicht nur nach deutscher Ansicht keines war, immer wieder ereifern, meinen sie den entscheidenden Treffer von Geoff Hurst im Endspiel 1966 gegen die Briten. Das ist Fußball.

Mit der stark durch Kommunikation geprägten Erinnerung ist es so eine Sache: Niemand kennt mehr die Fernsehübertragung des Endspiels von 1954 durch Bernhard Ernst, fast jeder aber die leidenschaftlich-fesselnde Rundfunkreportage Herbert Zimmermanns. Für die folgenden Worte musste er sich später entschuldigen: „Turek, du bist ein Teufelskerl, Turek, du bist ein Fußballgott.“ Gab es seinerzeit lediglich etwa 50 000 Fernsehgeräte in der Bundesrepublik Deutschland, hatte zwölf Jahre später der Fernsehkommentar Rudi Michels den Rundfunkkommentar Zimmermanns im öffentlichen Bewusstsein verdrängt.

Sollte 2022 „das Unvorstellbare“, so der DDR-Reporter Wolfgang Hempel nach dem Schlusspfiff 1954, im Wüstenland Katar als ein deutsches „Wintermärchen“ wahr werden, erneut mit Mario Götze, Thomas Müller, Manuel Neuer sowie Hansi Flick, damals Trainerassistent, diesmal Cheftrainer, dann wäre Flicks Werk, vielleicht dank Götzes Genialität, kein Flickwerk.

Weitere Artikel dieser Ausgabe