Populismus ist eher das Symptom als die Ursache der gegenwärtigen Demokratiekrise
Populismus ist eher das Symptom als die Ursache der gegenwärtigen Demokratiekrise
Buchtitel wie „How Democracies Die“ oder „How Democracy Ends“ geben der weitverbreiteten Wahrnehmung Ausdruck, dass die liberale, repräsentative Demokratie akut gefährdet ist. Der letzte Report der Nichtregierungsorganisation Freedom House titelt: „Die Demokratie ist auf dem Rückzug“. Indien unter Modi, die Türkei unter Erdogan, Brasilien unter Bolsonaro, die Philippinen unter Duterte, Russland unter Putin und, ja – die USA unter Trump: Die Rückkehr starker Männer mit gering entwickelter Neigung, die institutionelle Integrität der Demokratie zu schützen, hat zu alarmierenden Diagnosen geführt.
Dem korrespondiert der dramatische Aufstieg populistischer Parteien während der ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts in den parlamentarischen Demokratien Europas: Von Movimento, Podemos und Syriza im Süden bis zu den Schwedendemokraten und (wahren) Finnen im Norden, oder Fidesz und PiS im Osten, um nur einige der neuen populistischen Akteure zu nennen. Hinzu kommen nun auch noch die mit der Pandemie einhergehenden schweren sozialen Verwerfungen: Gehören die Demokratien mit populistischen Vorerkrankungen zur besonderen Covid-19-Risikogruppe? Manche wollten in Ungarn nach der Verabschiedung der dortigen Notstandsgesetze bereits die erste Corona-Autokratie auf europäischem Boden erkannt haben.
Man könnte zu beschwichtigen versuchen mit dem Hinweis, dass Krisendiagnosen schon immer ein Begleiter der Demokratie waren. Also nichts Neues unter der demokratischen Sonne und kein Grund zur Besorgnis? Zugegeben, als Harold Laski in den 1930er-Jahren seine Weil Lectures unter den Titel „Die Demokratie in der Krise“ stellte, sollte er auf tragische Weise recht behalten. Aber das erscheint ein bisschen wie bei den Ökonomen: Wenn permanent irgendjemand Krise schreit, wird das noch nicht dadurch zu einer präzisen Prognose, dass sie in seltenen Fällen auch eintritt. Zudem hatte Laski seinen Pessimismus auf die Analyse genau der zwei Länder gestützt, die dann für das Überleben der Demokratie im 20. Jahrhundert von zentraler Bedeutung wurden: die USA und das Vereinigte Königreich.
Aber unsere Zeiten unterscheiden sich von den vorherigen dann doch zumindest in einer Hinsicht. Es ist noch nicht so lange her, dass sich alle völlig einig waren: Die Demokratie ist zur einzig legitimen politischen Herrschaftsform geworden. Noch vor kurzem war diese „Ende der Geschichte“-Diagnose viel prägender als alle momentanen „Ende der Demokratie“-Warnungen, und diese Posthistoire-These stützte sich ja gerade auf den Befund, dass politischer und ökonomischer Liberalismus, lies: Demokratie und Kapitalismus, als alleinige Sieger aus dem 20. Jahrhundert hervorgegangen waren. Das führt zur Paradoxie unserer heutigen Lage, die Pierre Rosanvallon etwa wie folgt resümiert: „Das demokratische Ideal herrscht mittlerweile uneingeschränkt, und doch stehen die Systeme, die sich auf dieses Ideal berufen, fast überall unter heftiger Kritik.“ Wir sind also mit der gleichzeitigen Nicht-Krise und Krise der Demokratie konfrontiert. Das ist neu.
Eine Folge ist, dass die Demokratie heute eigentlich nur noch im Namen der Demokratie herausgefordert wird. Es steht die direkte gegen die repräsentative Demokratie, die illiberale gegen die liberale, einige meinen sogar, der Konflikt werde ausgetragen als „the people vs. democracy“ (Yascha Mounk). Boris Johnson ließ in seinem jüngsten Wahlkampf „das Volk“ gegen „die Politiker“ antreten, Donald Trump reagierte auf die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens mit dem Tweet: „Sie sind nicht hinter mir, sondern hinter euch her!“ und bezeichnete das Impeachment als einen Anschlag auf die Demokratie.
Jeder beruft sich auf die Demokratie, diejenigen, die den Status quo verteidigen, genauso wie diejenigen, die ihn angreifen. Und das macht den politischen Gegner dann immer gleich zu einem Feind der Demokratie – unter Berufung auf jeweils ganz unterschiedliche Konzeptionen von ihr: möglichst uneingeschränkte Volkssouveränität auf der einen und maximal rechtlich eingehegter Liberalismus auf der anderen Seite.
Natürlich gibt es keinerlei Veranlassung, der Selbstdeutung der neuen populistischen Akteure als Kämpfer für eine wirkliche, wahre Demokratie und gegen ein autistisches und korruptes Elitenkartell, das uns nur als Demokratie zu verkaufen versucht wird, völlig zu folgen.
Aber man sollte sie auch nicht reflexhaft als reine Propaganda abtun. Denn sie demonstriert doch zumindest zweierlei. Zum einen, dass – wie der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde schrieb – nun die Demokratie im Sinne von Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip hegemonial geworden ist, während das für die liberale Demokratie, die umfangreichen Minderheitenschutz, Gewaltenteilung und auch die zunehmende Delegation von Entscheidungsbereichen an non-majoritäre und/oder suprastaatliche Instanzen hinzufügt, nicht gilt.
Und dass, zweitens, ein Verständnis des Konflikts als Kampf zwischen Demokraten und Antidemokraten wohl zu kurz greift. Natürlich ist es ein hochplausibles Argument, dass eine „illiberale Demokratie“ à la Orbán in Wirklichkeit gar keine Demokratie sei. Aber das Argument, dass der Liberalismus in vielen seiner heutigen Ausprägungen undemokratisch geworden ist, ist es nicht minder. Aber damit zeigt sich, dass der Erfolg der Populisten nur vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Enttäuschung über die Verfasstheit und Funktionsweise unserer repräsentativen Demokratie zu verstehen ist. „Unsere gegenwärtige Demokratie funktioniert nicht mehr gut. Anderenfalls hätten wir keine populistische Gegenbewegung.“ (David Runciman)
Das heißt aber: Die Populisten sind gar nicht das eigentliche Problem der Demokratie. Sie markieren nur, dass sie eines hat. Man wird jedoch die (repräsentative) Demokratie gegen ihre Herausforderer schlecht verteidigen können, wenn man vermeidet, ihre Schwächen zu thematisieren, weil man sich darin eingerichtet hat, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Versteht man den Konflikt jedoch nicht einfach nur als Kampf zwischen bösen Anti-Demokraten und guten Demokraten, sondern eher als Konflikt zwischen einer antiliberalen Demokratie und einem undemokratischen Liberalismus, hält das eine Reihe eher unangenehmer Wahrheiten bereit.
Der Liberalismus ist in diesem Konflikt nicht nur das ganz unbewegliche, ganz unschuldige Opfer von wundersam wiedererstandenen und in ihrer Herkunft reichlich ominös bleibenden „illiberalen Kräften“. Wir haben es vermutlich eher mit der politischen Antwort auf die Überdehnung des liberalen Projekts zu tun, seiner umfassenden Konstitutionalisierung weiter politischer Entscheidungsbereiche, seinem Versuch, immer mehr politische Fragen dem demokratischen Verfahren zu entziehen und an Gerichte oder internationale Instanzen und Verträge zu delegieren, der Immunisierung von Einzelrechten gegenüber politischen Mehrheiten, seiner Tendenz zur Juristokratie und Technokratie, zur postpolitischen Verwaltung freier Märkte und freier Bewegung. Und mit diesem Projekt ist Europa weiter vorangeschritten als irgendjemand anderes.
Insofern sind die aktuellen Enddiagnosen wohl nicht ohne die Enddiagnose der 1990er zu verstehen: In der triumphalistischen Feststellung, dass nun der Liberalismus „alternativlos“ gewonnen habe, war die Hybris und damit auch die heutige Krisis des liberalen Projekts bereits angelegt.