Fünf Jahre nach Angela Merkels berühmtem Satz. Eine politische Begriffserklärung
Fünf Jahre nach Angela Merkels berühmtem Satz. Eine politische Begriffserklärung
Als Angela Merkel ihren berühmt gewordenen Satz „Wir schaffen das!“ aussprach, waren bereits etwa 570 000 Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Pegida demonstrierte in Dresden seit nahezu zehn Monaten gegen muslimische Migranten, Flüchtlingswohnheime waren in Brand gesteckt worden, und ein großer Teil der Deutschen stand Ausländern, insbesondere muslimischen, aber auch schwarzen Afrikanern ablehnend gegenüber. Als die Bundeskanzlerin den Satz aussprach, traf er also in Teilen auf eine Öffentlichkeit, die es nicht schaffen wollte. Diejenigen, die sich von dem Satz so provoziert fühlten, wollten das Gegenteil.
Und die Qualitätspresse stimmte zu erheblichen Teilen in einen Chor ein, der zwar nicht unbedingt „Wir wollen nicht!“, aber dafür mit umso größerer Überzeugung „Wir können nicht!“ anstimmte; vielstimmig zwar, aber mit eben jenem immer gleichen Geht-nicht-Refrain. Und über längere Zeit sah es so aus, als würden die Nicht-Woller und die Nicht-Könner die Oberhand gewinnen.
Dazwischen gab es andere Stimmen, die zwar auch vernehmlich waren und zeitweise eine erhebliche mediale Präsenz genossen, die Vertreter einer Willkommenskultur nämlich, die auf Bahnhöfen Geflüchtete teilweise begeistert begrüßten und damit eine bis dahin in Deutschland nie dagewesene Aufnahmebereitschaft demonstrierten. Aber ihnen gelang es zu keinem Zeitpunkt, die mediale Berichterstattung zu dominieren und die gesellschaftliche Stimmung zu drehen. Für sie war das „Wir schaffen das!“ ein Ansporn zu etwas, was ohnehin ihrem eigenen Wunsch entsprach. Sie wollten es schaffen.
Freilich konnten nicht alle diesen Anspruch einlösen. Manche schafften es einfach nicht, ihr Engagement durchzuhalten und Enttäuschungen wegzustecken; Enttäuschungen der unterschiedlichsten Art: Enttäuschung durch die Behörden, durch die Fallstricke von Asylrecht und Abschiebungspraxis, durch Geflüchtete, die die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten oder erfüllen wollten.
Was aber sollte geschafft werden? Und wie sollte das gehen? Das nicht mitgesagt zu haben, ist der Kanzlerin schon bald und in den Jahren danach wiederholt vorgeworfen worden, auch von ihrem damaligen Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Was sich darin ausdrückt, ist eine völlige Verkennung dessen, was eine Pressekonferenz leisten kann. Die Kanzlerin versuchte, eine in Teilen den Geflüchteten gegenüber extrem negativ eingestellte Bevölkerung für ein Projekt zu gewinnen, indem sie ihr signalisierte, dass es bewältigt werden könne. Sie versuchte, Zuversicht angesichts einer großen Herausforderung zu verbreiten, was zweifellos eine wichtige Aufgabe politischer Führung ist. Das Problem bestand aber darin, dass sie nicht auf Skepsis stieß, die von Zuversicht überwunden werden kann, sondern auf Pessimismus, der sich gegen Zuversicht bereits immunisiert hatte, und in Teilen auf tiefe Ablehnung, für die ein „Wir schaffen das!“ eine Provokation war.
Geschafft werden sollte zunächst die administrative Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme. Wie schwierig das war, zeigten nicht zuletzt die Bilder von der deutsch-österreichischen Grenze, wo es teilweise nicht mehr gelang, den Flüchtlingsstrom so zu steuern, dass eine reguläre Registrierung möglich war, und von Aufnahmeeinrichtungen wie dem Berliner Lageso. Tagelang im völlig überfüllten Hof des Lageso im Matsch stehende Geflüchtete, die auf ihre Registrierung warteten, und teilweise sehr schwierige Bedingungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen, die häufig aus Zelten oder Turnhallen mit Feldbetten und zu wenigen sanitären Einrichtungen bestanden, erzeugten auch bei Menschen, die nicht grundsätzlich gegen eine Aufnahme von Geflüchteten waren, Skepsis gegenüber dem Versprechen „Wir schaffen das!“.
Dennoch entwickelte sich erstmals eine Bewegung, die die Aufnahme von Geflüchteten als persönliche Aufgabe wahrnahm, die unter „wir“ nicht die Regierung und die nachgeordneten Behörden verstand, sondern die gesamte Gesellschaft. Für diese Gruppe war Integration weniger eine Bringschuld der Aufgenommenen als vielmehr eine Selbstverpflichtung der Aufnehmenden: Integrieren, davon war diese Gruppe überzeugt, kann der Geflüchtete sich in eine fremde Gesellschaft nicht selbst. Das gelingt ihm nur, wenn er Beziehungen aufbauen kann, die ihm das „Mit-leben“ in der Gesellschaft im Sinne eines Miterlebens ermöglichen. Insofern waren die von Flüchtlingsinitiativen rasch aus dem Boden gestampften Angebote, wie die Begleitung zu Ämtern, Deutschkurse, juristische Beratung, bis hin zu zur Aufnahme von Flüchtlingen in die eigene Wohnung, ein Versuch, von Beginn an zu integrieren.
Das kollidierte nicht selten mit dem Asylrecht und der Asylrechtspraxis, die auf Prüfung, Sortierung und gegebenenfalls Abschiebung von nicht als asylberechtigt Anerkannten setzte. Wobei Letzteres nur in wenigen Fällen gelang und teilweise mit unbilligen Härten verbunden war.
Dennoch hatte der Satz „Wir schaffen das!“ auch dort eine performative Dimension: Denn zum ersten Mal wurde man sich, bis weit in das konservative Lager hinein, darüber klar, dass man nicht Menschen aufnehmen und ihnen dann die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an Sprache, Kultur und gesellschaftlicher Reproduktion, sprich Arbeit, verweigern konnte. Und so wurden, bei allen Rückschlägen und dem Ziel der Integration widersprechenden Handlungen wie der Einrichtung von sogenannten „Ankerzentren“, zum ersten Mal im großen Stil Deutsch- und Integrationskurse angeboten, die ein großer Teil der Geflüchteten wahrnehmen durfte. Und zum ersten Mal wurden Asylbewerber und schließlich auch Geduldete vom Arbeitsmarkt nicht vollständig ausgeschlossen. Das bis dahin getan zu haben, gehört zu den politischen Sünden der Bundesrepublik, die auf einer Lebenslüge beruhten: dass Geflüchtete und Asylsuchende nur eine Zeitlang dablieben und folglich auch nicht wirklich integriert werden müssten.
Heute ist ungefähr die Hälfte der Asylsuchenden aus den Jahren 2015/16 in den Arbeitsmarkt integriert. Und dennoch ist aus dem Land und der medialen Berichterstattung noch nicht zu hören: Wir haben das geschafft, die andere Hälfte schaffen wir auch noch. Das aber sollten wir auch noch schaffen.