Oder nicht. Die Politik hat aufgegeben – die Pandemiebekämpfung ist jetzt Sache der Verwaltung
Oder nicht. Die Politik hat aufgegeben – die Pandemiebekämpfung ist jetzt Sache der Verwaltung
Michael Ryan ist der oberste Krisenmanager der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Er spricht seine Sätze mit Druck, aber ruhig, schnell und ist dabei immer so klar, wie es Krisenmanager eben sind, die gelernt haben, mitten im schlimmsten Sturm die Ruhe zu bewahren. „Der größte Fehler ist es, sich nicht zu bewegen, der größte Fehler ist es, durch die Angst vor dem Versagen gelähmt zu sein – das ist die größte Lektion, die ich in der Vergangenheit bei Ebola-Einsätzen gelernt habe.“
Die erfolgreiche Bekämpfung des Ebola-Virus in Westafrika 2013 bis 2016 unter Führung der Vereinten Nationen und mit Hilfe der US-Armee gilt für Experten im Westen als Beispiel, wie eine Epidemie erfolgreich bekämpft werden kann. Einige dieser Fachleute arbeiten seit mehr als einem Jahr an der Bekämpfung von Covid-19. So auch Michael Ryan. „Das Problem in der Gesellschaft, das wir im Moment haben, ist, dass jeder Angst davor hat, einen Fehler zu machen“, sagt Ryan, und: „Jeder hat Angst vor den Konsequenzen eines Fehlers.“ Grundlage jedes Krisenmanagements im Kampf gegen das Virus sei: Geschwindigkeit – wer langsam ist, verliert. Und: Krisenmanagement ist kein Schönheitswettbewerb, es ist schmutzig, und Fehler gehören dazu. Solange immer noch mehr Maßnahmen wirken als scheitern, passt es.
Und so passt die Analyse auch gut zur aktuellen Pandemie-Bekämpfung in Deutschland. Allerdings ist sie schon mehr als ein Jahr alt: Ryan sagte diese Sätze am 13. März 2020.
Das italienische Bergamo stürzte in die erste Covid-Katastrophe, Deutschland machte dicht und gewann die erste Runde im Kampf gegen Sars-CoV-2. Es folgte ein Sommer der relativen Glückseeligkeit für Pandemie-Verhältnisse. Danach die zweite Welle. Seither hat Deutschland die Pandemie nie wieder unter Kontrolle gebracht. Denn es war nicht mehr schnell.
Mehr noch: Im vergangenen Jahr wurden Entscheidungen getroffen, die das Krisenmanagement entschleunigten. Zum Beispiel die Impfstoff-Beschaffung durch die EU-Kommission auf Druck der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Gesundheitsminister mehrerer EU-Staaten, darunter die aus Deutschland und Frankreich, bereits geeinigt, die Impfstoff-Beschaffung in die Hand zu nehmen.
Sie waren sehr schnell und folgten damit sogar der Logik des derzeit geltenden EU-Vertrages von Lissabon. Durch den wurde die EU-Kommission als gemeinschaftliche Institution geschwächt zu Gunsten des Europäischen Rates und seiner 27 nationalen Regierungen. Damit dennoch kein Land andere ausbremsen kann, zum Beispiel in Krisen, wurde vereinbart, dass einzelne Länder mit vertiefter Zusammenarbeit voranschreiten können. Sagen wir: mit einer gemeinsamen Beschaffung von Impfstoffen für die gesamte EU. Maßgeblich ausgehandelt hatte diesen Vertrag: Angela Merkel. Dass die gleiche Bundeskanzlerin plötzlich die EU-Kommission in der Pandemie-Bekämpfung stärken wollte, ist ein handwerklicher Fehler. Die EU-Kommission hatte dafür schlicht keine Kompetenzen, kaum Leute und musste auch noch viele Vereinbarungen mit den Herstellern rückkoppeln – mit 27 EU-Regierungen. Es so zu machen wie die USA und gegenüber den Firmen nicht als Käufer, sondern als Investor aufzutreten, war wahrscheinlich schon deshalb unmöglich. Die Kommission konnte gar nicht als wirklich mandatierter alleiniger Akteur auftreten. Sie war auf diese Herkulesaufgabe schlicht nicht vorbereitet.
Langwierig wurde so über Haftungsfragen gesprochen. Jede Impfkampagne braucht Zeit, um voll anzulaufen. Großbritannien übernahm deshalb die Haftung selbst und legte fest, dass die neuartigen mRNA-Impfstoffe im Abstand von drei Monaten verimpft werden sollten anstatt innerhalb von sechs Wochen, wie es im Beipackzettel zum Beispiel des BioNTech-Pfizer-Impfstoffes heißt, um anfangs mehr davon zu haben. Mit Erfolg. Europa hätte den Herstellern sagen können: Machen wir auch so, bis genug produziert wird.
Doch dazu war die EU-Kommission gar nicht in der Lage. Sie darf schlicht nicht über finanzielle Risiken nationaler Haushalte entscheiden – und der Corona-Krisenfonds der Europäer drohte zu diesem Zeitpunkt noch blockiert zu werden, vorneweg von Ungarn und Polen. „Das Perfekte ist der Feind des Guten beim Notfallmanagement“, sagt WHO-Krisenmanager Michael Ryan, „Geschwindigkeit übertrumpft Perfektion.“
Spätestens seit Oktober 2020 war für Deutschland klar, dass die Politik diesen Satz nicht mehr beherzigt. Als die Modelle der Pandemieentwicklung die zweite Welle ziemlich genau vorhersagten, wäre die logische Reaktion gewesen, noch einmal das Erfolgsmodell vom Frühjahr 2020 zu wiederholen. Das passierte nicht. Die Angst vor dem unbekannten Virus wirkte nicht mehr. Möglicherweise war die Politik in Berlin und den Ländern da schon längst wieder im alltäglichen Modus von Einflussnahmen, Lobbyismus also, und nicht – im echten Krisenmanagement. Es war der Moment, als sich die Entscheider von einer wissenschaftlich fundierten Pandemiebekämpfung verabschiedeten.
Was das im Politikalltag bedeutet, konnte man vergangenen Sonntag im Ersten Deutschen Fernsehen beobachten. Da reagierte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier auf den dramatischen Appell von Michael Hallek, dem Direktor der inneren Medizin an der Uni-Klinik Köln und Mitglied der No-Covid-Gruppe, er möge doch konkrete Vorschläge machen. Blöd nur, dass diese Vorschläge bereits am 18. Januar vorgelegt wurden, seither werden sie regelmäßig aktualisiert und zum Beispiel in einer Videokonferenz auch Altmeiers Bundeswirtschaftsministerium nahegebracht. Es waren schlicht zwei Welten, die da aufeinanderprallten: Hallek machte deutlich, wie in Köln die Intensivstationen volllaufen und – vor allem – das Personal am Ende seiner Kräfte ist.
Es verfestigt sich ein Eindruck: Die Politik hat aufgegeben. Das Krisenmanagement wird nun mit der sogenannten Bundesnotbremse vollends in die Hände der Verwaltung gegeben. In der gleichen Talk-Runde war recht häufig ein Wort zu hören, das Merkel zugeschrieben werden kann: „Instrumentenkasten“ der Pandemiebekämpfung. Der steht jetzt da mit dem neuen Gesetz – und gut ist. Die Politik schaltet nach und nach auf Wahlkampf mitten in der größten Herausforderung für die Bundesrepublik Deutschland „seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Merkel). Es sterben Menschen, die sehr wahrscheinlich hätten gerettet werden können.
Da bleibt nur: Rette sich selbst, wer kann. Den Telefonhörer in die Hand nehmen und Arztpraxen abtelefonieren in der Hoffnung, einen Impftermin zu ergattern, so schnell wie möglich. Von der Politik ist in dieser Phase der Pandemie offenbar nichts mehr zu erwarten. Sie hat die Bekämpfung der Verwaltung übertragen und hofft darauf, dass die Impfkampagne wirkt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Mittlerweile rollt die Virus-Mutante B.1.617 aus Indien an. In Großbritannien verbreitet sie sich noch schneller als zuvor schon die B.1.1.7-Variante. Großbritannien ist Spitzenreiter beim Impfen in Europa. Wollen wir hoffen, dass es gut geht.