Die Europäische Union betreibt hochtrabendes Gewese, verwaltet aber politisch bloß den Stillstand
Die Europäische Union betreibt hochtrabendes Gewese, verwaltet aber politisch bloß den Stillstand
Die Europäische Union mag um manches verlegen sein – um große Worte ist sie es nie. Also spricht David Sassoli, Präsident des Europäischen Parlaments, von einem „Neubeginn für Europa“, Antonio Costa, amtierender Präsident des Rates der EU, verheißt ein „Zeichen des Vertrauens und der Hoffnung“, und die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, verspricht den Bürgern Europas: „Wir haben ein offenes Ohr für Ihre Anliegen. Wir hören Ihnen zu und handeln danach.“
Die güldenen Worte der vereinigten Präsidenten galten allesamt demselben Ereignis: dem offiziellen Startschuss für die „Konferenz über die Zukunft Europas“, an der sich auch ganz normale Bürger über eine Internet-Plattform beteiligen sollen.
Die Frage ist allerdings, was sie dann erwarten dürfen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass die EU in ihrem immer wieder aufflammenden Wunsch, bürgernah zu erscheinen, irgendwelche Formen der Bürgerbeteiligung ersinnt. Die Ergebnisse waren regelmäßig ernüchternd.
Das gilt selbst für die eigentlich noch wirksamste Form der Bürgerbeteiligung, nämlich die Europawahl. Eigentlich, so versprach die Politik, sollte einer der dort antretenden Spitzenkandidaten Präsident der EU-Kommission werden. Tatsächlich wurde es Ursula von der Leyen, von der vorher nie die Rede gewesen war.
Als die Anfang des Jahrtausends geplante Verfassung für die EU in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde, zögerten Europas Regierungen nur kurz – und packten dann den wesentlichen Inhalt der Verfassung fast wortgleich in einen neuen Vertrag, der als „Vertrag von Lissabon“ in die Geschichte einging.
Die „Europäische Bürgerinitiative“, mit der Bürgerinnen angeblich Einfluss auf die EU-Gesetzgebung nehmen können, erwies sich nahezu flächendeckend als Flop. Denn selbst wenn so eine Initiative erfolgreich ist – was angesichts zahlreicher bürokratischer Hürden sehr schwer ist; ein gutes Viertel der Initiativen wird gar nicht erst zugelassen – kann die EU-Kommission anschließend völlig frei entscheiden, was sie damit macht. Eine Initiative zum Schutz von Minderheiten erklärte die Kommission kurzerhand mit der Feststellung für erledigt, alles Nötige passiere schon. Eine Initiative für das Verbot des Unkrautvernichters Glyphosat endete damit, dass die Zulassung des Mittels um fünf Jahre verlängert wurde. Eine weitere Initiative zum Verbot von Tierversuchen beantwortete die Kommission mit der Organisation einer Konferenz. Und so weiter.
Tatsache ist, dass Europas Politikerinnen nicht interessiert, was ihre Bürger denken. Sie machen, was sie für richtig halten, oder auch nur das, worauf sie sich einigen können. Was Bürgerinnen äußern, in welcher Form auch immer, nehmen sie nur auf, wenn es ihnen sowieso passt.
Ein schönes Beispiel dafür ist die „Konsultation“ der EU-Kommission, in der sich 2018 fast 90 Prozent der Teilnehmer dafür aussprachen, die Umstellung zwischen Winter- und Sommerzeit abzuschaffen. Ein beeindruckendes Ergebnis, das allerdings nichts darüber verriet, was Europas Bürgerinnen in dieser Frage denken. Denn von den 4,6 Millionen Teilnehmern kamen über drei Millionen allein aus Deutschland (was aber auch hier nicht einmal vier Prozent der Bevölkerung entsprach). In fast allen Mitgliedstaaten lag die Beteiligung bei unter einem Prozent. Man kann annehmen, dass die übergroße Mehrheit all jener, die der Zeitumstellung gleichgültig oder sogar positiv gegenüberstehen, diese „Konsultation“ einfach ignoriert hatten.
Aber das Ergebnis passte: Jean-Claude Juncker, der damalige Kommissionschef, nutzte es, um allen Kritikern der angeblichen Brüsseler Regulierungswut eine Lektion zu erteilen. Die EU werde die Zeitumstellung abschaffen, verkündete er, aber um die Neuregelung sollten sich die Mitgliedstaaten selbst kümmern. Es war absehbar, dass sie daran scheitern würden. So ist es bis heute.
Die Bürgerbeteiligung wird nicht wirksamer werden, wenn es jetzt um die Zukunft Europas geht. Man könnte das gelassen zur Kenntnis nehmen, wäre es nicht so ärgerlich. Bürgern wird ein Einfluss vorgegaukelt wird, den sie in Wahrheit nicht haben. Die EU fügt ihren vielen leeren Versprechen damit ein weiteres hinzu und wird Hoffnungen enttäuschen. Leisten kann sie sich das eigentlich nicht.
Vor allem aber können sich Europas Regierungen, die Kommission und das Europäische Parlament mit Verweis auf die Konferenz über die Zukunft Europas darum drücken, sich mit Europas Gegenwart zu befassen. Die ist traurig genug. Wäre nicht eine ernsthafte, schonungslose Analyse der gegenwärtigen Lage der Ausgangspunkt für jede Debatte über Europas Zukunft?
Es ist ja nicht nur außenpolitisch so, dass Europa zur Lachnummer geworden ist. Das Wichtigste, was eine Gemeinschaft zusammenhält, ist der EU abhandengekommen, nämlich gemeinsamer Wille. Daran scheitert jede wirklich wirksame Veränderung, denn diese bedarf nach den Regeln der EU stets der Einstimmigkeit.
Europa ist eine Verhinderungsgemeinschaft geworden. Die Katze beißt sich in den Schwanz: Europas Zustand ist reparaturbedürftig, aber sein Zustand verhindert jede nennenswerte Reform. Man kann das, wie es Europas Regierungen tun, so hinnehmen und sich weiter durchwurschteln. Aber tiefsinnige Gedanken über Europas Zukunft wären dann vergebliche Liebesmüh.