Unfröhliche Urständ

Jenseits des Weißen Hauses: Die USA des Jahres 2020 tragen Züge einer Plutokratie

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PICTURE ALLIANCE/ZUMA PRESS
Dem amerikanischen Volke oder den Reichen und Mächtigen? Das US-Kapitol in Washington, Sitz des Kongresses
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Dem amerikanischen Volke oder den Reichen und Mächtigen? Das US-Kapitol in Washington, Sitz des Kongresses

Unfröhliche Urständ

Jenseits des Weißen Hauses: Die USA des Jahres 2020 tragen Züge einer Plutokratie

Glaubt man Donald Trump und seinen Propagandisten, so würde ein Sieg Joe Bidens die Vereinigten Staaten in einen sozialistischen und marxistischen Gulag verwandeln: Achtung, Bolschewismus! Es ist eine hanebüchene Behauptung. Denn nichts bedroht Amerika weniger als der Marxismus. Die eigentliche Bedrohung des amerikanischen Gesellschaftsmodells ist das genaue Gegenteil: das immer stärkere Abtriften in die Plutokratie.

Die Lexika definieren Plutokratie als eine Staatsform, in der ein kleiner Prozentsatz von Reichen und Besitzenden die Herrschaft ausübt, in dem Geldmacht politische Macht ist („Geld stinkt nicht, es regiert“) und in dem ein hoher Grad an Ungleichheit herrscht. Der Begriff war einst ein Kampfbegriff der Nazis gegen die westlichen Demokratien, aber er feiert neuerdings unfröhliche Urständ in der internationalen Diskussion über Steuergerechtigkeit, Machtreichtum und Reichtumsmacht (Werner Sombart) und die Zukunft des Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung.

Immer öfter ist nun in seriösen akademischen Studien zu lesen, dass in Amerika die demokratischen Institutionen und Verfahren zwar existieren und funktionieren, aber in zunehmendem Maße überlagert oder übergangen werden. Die USA seien eine Plutokratie geworden, in der eine privilegierte Minderheit ihre Interessen sichere, die übrige Bürgerschaft nur noch wenig oder gar keinen Einfluss auf die Politik habe. So stellen Martin Gilens und Benjamin Page fest, dass die amerikanische Mittelklasse kaum noch entscheidende Mitsprache ausübe, wo es um die Festlegung der politischen Leitlinien gehe: „Die Beschlüsse des Kongresses werden nicht von den Wählern bestimmt, sondern von den Finanz-Sponsoren. Auf diese Weise wird Amerika immer weniger eine funktionierende Demokratie, in der alle Bürger die gleiche Stimme haben. Mehr und mehr sieht es wie eine Plutokratie aus, in der wenige reiche Leute unverhältnismäßig mächtig sind.“

Der Ökonom Marvin Zonis von der University of Chicago spricht nicht von Plutokratie. Er befindet, dass das amerikanische System in einer Legitimitätskrise stecke. Er schreibt: „Wer viele Milliarden [in die Politik] investiert, der erwartet, dass sich dies rentiert – und im Allgemeinen rentiert es sich. Die Kongressbeschlüsse zum Waffenbesitz, zu Zuckersubventionen, zur Israel-Politik, zu Medikamentenpreisen und zahllosen anderen Fragen lassen sich am besten mit Spenden für politische Kampagnen erklären, nicht jedoch durch den Wählerwillen, ja nicht einmal mit dem Willen der Kongressabgeordneten und Senatoren.“

Zum Abgleiten in die Plutokratie, dem Donald Trump vier Jahre lang Vorschub leistete, kommt das Absterben der Meritokratie. Aufstieg durch Leistung wird immer schwieriger. Nicht länger hebt auflaufendes Wasser alle Boote. Die Statistik ist in der Tat ernüchternd. Das gilt zunächst einmal für die Vermögensverteilung: Das oberste eine Prozent der Amerikaner besitzt nahezu 40 Prozent des Volksvermögens; vor einem Vierteljahrhundert waren es noch 33 Prozent. Noch verstörender ist die Einkommensstatistik. Auf 20 Prozent der Familien entfiel die Hälfte des Volkseinkommens. Die Einkünfte der obersten zehn Prozent haben sich seit 1980 verdoppelt, die des obersten einen Prozents verdreifachten sich, die der obersten 0,001 Prozent stiegen gar auf das Siebenfache. Hingegen verringerte sich das Einkommen der Mittelklasse, deren Anteil auf 43 Prozent schrumpfte, während die Schicht mit dem geringsten Einkommen unverändert niedrig bei knapp zehn Prozent blieb. Die Einkommensungleichheit der USA ist die höchste aller G7-Staaten; der Gini-Koeffizient liegt bei 0,434.

Beide Tendenzen, weniger Meritokratie und mehr Plutokratie, haben im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Sie werden den öffentlichen Diskurs der nächsten Jahre entscheidend bestimmen.

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