Unsere Werte

Die EZB überrascht mit ihren Ankündigungen für 2023. Die strukturellen – und psychologischen Dilemmata bleiben gleichwohl erhalten

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PICTURE ALLIANCE/DPA | ARNE DEDERT
Eindämmung: Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), in Frankfurt am Donnerstag.
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PICTURE ALLIANCE/DPA | ARNE DEDERT
Eindämmung: Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), in Frankfurt am Donnerstag.

Unsere Werte

Die EZB überrascht mit ihren Ankündigungen für 2023. Die strukturellen – und psychologischen Dilemmata bleiben gleichwohl erhalten

Mit seinen Beschlüssen diesen Donnerstag hat der Rat der Europäischen Zentralbank die Finanzmärkte kalt erwischt und Kurse von Anleihen und Aktien fallen lassen. Zwar hat er den Anstieg seiner Leitzinsen, wie am Markt erwartet, etwas verlangsamt und den geldpolitisch relevanten Zinssatz nur von 1,5 auf 2 Prozent angehoben. Aber er hat zugleich angekündigt, den Zinsanstieg im kommenden Jahr eine Weile im gleichen Tempo fortzusetzen. Das hatte kaum jemand auf der Rechnung. Einerseits müssen Europas Währungshüter fürchten, dass die angeschlagenen europäischen Volkswirtschaften die Inflationstherapie nicht verkraften können, andererseits würden sie mit einer allzu schwachen Dosierung riskieren, dass die Inflation zu einer Plage wird, mit der wir jahrelang leben müssen.

Inflation ist zwar ein ökonomisches Phänomen, aber die größte Gefahr ist eine psychologische. Wenn sich bei Produzenten und Händlern, bei Konsumenten und Arbeitnehmern die Erwartung festsetzt, dass die Inflation gekommen ist, um zu bleiben, dann passen sie ihr Verhalten an, erhöhen ihre Preise immer weiter und fordern höhere Löhne, um den Kaufkraftverlust auszugleichen. In den Notenbanken ist das Phänomen als Lohn-Preis-Spirale, oder besser Preis-Lohn-Spirale bekannt und gefürchtet. Schaut man sich um, so sieht man, dass sich die Spirale bereits zu drehen beginnt.

Zwar wird der statistische Basiseffekt im kommenden Frühjahr zu einer gewissen Erleichterung führen, denn nach 12 Monaten verschwindet der extreme Anstieg der Preise für Energie aus den Jahresraten. Aber alles deutet darauf hin, dass die Inflation hartnäckig über dem 2-Prozent-Ziel der EZB verharren wird, denn längst steigen die Preise auf breiter Front, und die Löhne beginnen nachzuziehen. Selbst die EZB räumt in ihrer jüngsten Projektion ein, dass die Inflationsrate im Euroraum im Jahresdurchschnitt 2023 mehr als 6 Prozent betragen und in den zwei folgenden Jahren nur allmählich zurückgehen wird.

Der von Christine Lagarde geführte EZB-Rat steckt in einem strukturellen Dilemma. Er will seine Glaubwürdigkeit wahren und die Inflation eindämmen, muss jedoch Rücksicht nehmen auf die innere Stabilität des Euroraums und die Zukunft von dessen Volkswirtschaften. In den Jahren ihrer ultraexpansiven Geldpolitik unter Mario Draghi hat die EZB Regierungen, Investoren, Unternehmen und Haushalte an historisch niedrige Zinsen gewöhnt. Warnungen, dass es nicht immer so bleiben wird, wurden geflissentlich überhört. Steigende Zinsen führen nun zu einem Stresstest für die Schuldentragfähigkeit der Staaten. Die Staatsschuldenkrise liegt erst ein Jahrzehnt zurück und ist in abschreckender Erinnerung geblieben. Weder möchte der EZB-Rat mit Rettungskäufen von Staatsanleihen einspringen noch haben Deutschland und Frankreich Appetit, einem strauchelnden Partner finanziell zu Hilfe zu kommen.

Zudem sind die europäischen Volkswirtschaften vielfach herausgefordert. Sie wollen in ihre Energieversorgung investieren, um unabhängiger zu werden. Sie wollen in ihre Industrie, ihren Verkehr und ihre Gebäude investieren, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu eliminieren. Sie wollen in heimische Produktion investieren, um sich gegen geopolitische Risiken zu wappnen. Sie müssen ihren Rückstand bei der Digitalisierung aufholen und ihre marode Infrastruktur erneuern. Sie werden von den USA zu einem Subventionswettlauf herausgefordert. Um all das gleichzeitig zu bewältigen, ist Geld erforderlich, sehr viel Geld. Der EZB-Rat würde durch eine aggressive Zinspolitik riskieren, dass Europa einen Fehlstart hinlegt bei der Bewältigung seiner Zukunftsaufgaben.

Auch werden die bevorstehenden Jahre von völlig anderen Kräften bestimmt sein als die Zeit, in der die Inflation hartnäckig zu niedrig zu sein schien. Das beginnt mit der Demografie. Die Generation der Babyboomer geht Zug um Zug in Rente. Das verknappt die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und verlangt höhere Bezahlung. Der Übergang zu einer die Kohlenstoffemissionen eliminierenden Wirtschaft führt zu einem unstillbaren Hunger nach Rohstoffen. Das macht Ressourcen knapp und teuer. Das Streben nach strategischer Autonomie in Schlüsselindustrien wird ein weiterer Faktor sein, der Preise treibt. Denn heimische Produktion ist zumeist teurer als globale Arbeitsteilung.

Die europäischen Regierungen haben, was Zinspolitik und Inflation betrifft, zwei Seelen in ihrer Brust. Zwar wünschen sie sich, dass die Notenbank die Inflation in den Griff bekommt, weil Inflation sozialen Sprengstoff birgt und Umfragewerte sinken lässt, doch zugleich fürchten sie stark ansteigende Zinsen. Denn nicht nur ihre eigene Refinanzierung kommt dadurch in die Bredouille, auch die vielen vom privaten Sektor erwarteten Investitionen in die Energiewende werden noch kostspieliger und subventionsbedürftiger. Erschwert wird die Situation dadurch, dass die Regierungen mit Subventionen, Transfers und Steuererleichterungen dazu beitragen, dass sich die Inflation verstetigt. Politisch ist das legitim und unvermeidlich, um soziale Härten abzufedern und die Wirtschaft am Laufen zu halten. Zwar wäre es elegant, dabei gezielt vorzugehen und Streueffekte zu vermeiden, aber angesichts der gebotenen Schnelligkeit lässt sich dieser Rat der Wirtschaftsweisen nicht befolgen.

Mit Ratschlägen an die Notenbank hält man sich in Berlin zurück. Den Zinsanstieg dürfte der Bundeshaushalt vorerst verkraften können. Noch immer kann sich der Bund mit kaum mehr als 2 Prozent über 10 Jahre verschulden. In anderen Hauptstädten ist die Nervosität größer. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat die EZB vor einigen Wochen in einem Interview davor gewarnt, Europas Nachfrage zu brechen, um die Inflation einzudämmen. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat, kaum war sie im Amt, in die gleiche Kerbe geschlagen. Seither sind die öffentlichen Mahnungen verstummt. Aber an der Haltung beider Regierungen und an deren Erwartungen an die EZB besteht kein Zweifel. Mit ihrer Haushaltspolitik gehen Frankreich und Italien an die Schmerzgrenze. Paris plant ein Defizit von 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und fortgesetzte Subventionen für Gas und Strom. Die neue Regierung in Rom hat zwar üppige Wahlversprechen zurechtgestutzt, will aber mit einem Defizit von 4,5 Prozent etwas mehr wagen, als Mario Draghi als Ministerpräsident vorgesehen hatte.

Weil die Regierung Meloni in den ersten Wochen finanzpolitisch mit Bedacht agiert und den Schulterschluss mit Brüssel sucht, halten die Finanzmärkte still. Der Risikoaufschlag italienischer Staatsanleihen gegenüber Bundesanleihen ist sogar zurückgegangen. Für den EZB-Rat ist das eine enorme Erleichterung, denn im Sommer sah es noch anders aus. Eilig hatte der Rat ein neues Kaufprogramm in Aussicht gestellt, sollten die Märkte das Land attackieren. Damit hat sich die Notenbank wieder weit in politisches Terrain begeben und ihr Mandat kreativ ausgelegt. Um sich abzusichern, hat sie jedoch zwei Bedingungen formuliert, die sie im Falle der Aktivierung zu beachten gedenkt: Das betreffende Land muss sich an europäische Regeln halten und eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik verfolgen. Das hat man in Italien vernommen. Giorgia Meloni ist bislang klug genug, diese Bedingungen nicht zu verletzen. Allerdings wird ihr Spielraum im kommenden Jahr enger, sollten die Zinskosten schneller steigen, als die Inflation Mehreinnahmen in die Staatskasse spült. Und die jüngste Ankündigung der EZB, dass sie ab März ihren in den vergangenen Jahren aufgebauten 5-Billionen-Euro-Bestand an Staatsanleihen behutsam reduzieren wird, hat die Finanzmärkte nervös gemacht, sodass sich die Zinsdifferenz zwischen Italien und Deutschland schon wieder etwas ausgeweitet hat.

Italien und mit ihm andere hochverschuldete Euroländer sind die schwächsten Glieder in der Kette des Euroraums, zu dem ab Januar als zwanzigstes Mitglied auch Kroatien zählt. Aber der Zielkonflikt ist überall der gleiche. Zwar wünscht man sich einen Rückgang der Inflation, fürchtet aber, eine resolute Inflationsbekämpfung nicht verkraften zu können. Die EZB hat angesichts der Fragilität des ihr anvertrauten Währungsraums keine andere Wahl, als darauf Rücksicht zu nehmen. Zwar hat sie nun für das kommende Jahr weitere signifikante Zinsschritte in Aussicht gestellt, aber sie wird sich fragen müssen, wie weit sie gehen kann. Sollte sie bei ihren nächsten geldpolitischen Sitzungen Anfang Februar und Mitte März zwei weitere Schritte im 0,5-Prozentpunkte-Takt folgen lassen, würde der geldpolitisch relevante Satz auf 3 Prozent steigen – noch immer nicht gerade viel bei einer Inflationsrate, die auch im Frühjahr noch klar bei mehr als 5 Prozent liegen dürfte.

Zwar sollte es dem EZB-Rat mit seinem Zinskurs gelingen, die ärgsten Inflationsexzesse einzudämmen, aber eine moderate Straffung der Zinsen könnte sich als unzureichend erweisen, um die Inflationsraten in den kommenden Jahren wieder auf 2 Prozent abzusenken. Weitaus realistischer ist ein Szenario mit über längere Zeit erhöhten Inflationsraten. Wirtschaft und Politik, Verbraucher und Arbeitnehmer tun gut daran, sich darauf einzustellen, auch wenn der EZB-Rat mit seinem jüngsten Beschluss versucht hat, solche Befürchtungen zu zerstreuen. Denn Inflation, das wissen die Währungshüter, beginnt in den Köpfen.

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