5500 Sendungen der Tagesschau später: Die Länder des Globalen Südens und die Hungersnot gehen in der Berichterstattung unter
5500 Sendungen der Tagesschau später: Die Länder des Globalen Südens und die Hungersnot gehen in der Berichterstattung unter
Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie die Kernreaktorkatastrophe von Fukushima kennen. Auch die griechische Staatsschuldenkrise und der sogenannte Arabische Frühling dürften Ihnen wohlbekannt sein. Diese Themen dominierten die Auslandsberichterstattung im Jahr 2011. Wussten Sie allerdings, dass etwa zur selben Zeit infolge einer Hungersnot am Horn von Afrika in Somalia fast 260 000 Menschen starben, unter denen die Hälfte Kinder jünger als fünf Jahre waren? Das Ereignis, das der damalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres als „schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt“ bezeichnete, gehört zu den vergessenen Katastrophen, die im kollektiven Gedächtnis des „Westens“ nicht existent sind. Einer der Gründe liegt darin, dass in den Medien kaum berichtet wurde.
Eine Langzeitstudie des Autors mit dem Titel „Vergessene Welten und blinde Flecken“ hat über 5500 Sendungen der Hauptausgabe der Tagesschau aus den Jahren 1996 und 2007 bis 2021 sowie Berichte verschiedener in- und ausländischer Medien untersucht. Die Ergebnisse sind sehr ernüchternd: Der Globale Süden spielt in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Eine gewisse Ausnahme bildet die MENA (Middle East & North Africa)-Region, wo mehrere Kriege und militärische Auseinandersetzungen, teilweise mit Beteiligung westlicher Staaten, stattfanden.
Zu den am stärksten vernachlässigten Katastrophen gehört der globale Hunger. Die aktuelle Lage ist erschreckend: Laut dem Welternährungsbericht der Vereinten Nationen ist die Zahl der chronisch Hungernden im Jahr 2020 weltweit auf 720 bis 811 Millionen Menschen gestiegen. Damit hungert etwa jeder zehnte Mensch auf der Welt. Über zwei Milliarden Menschen leiden unter Mangelernährung. Alle 13 Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger, in einem Jahr also fast 2,5 Millionen Kinder. Das Welternährungsprogramm machte deutlich, dass jährlich mehr Menschen „an den Folgen des Hungers sterben […] als an AIDS, Malaria und Tuberkulose zusammen“.
In der Öffentlichkeit werden diese Zahlen kaum wahrgenommen oder medial thematisiert. Auch nicht in der Nachrichtensendung mit der größten Reichweite im deutschsprachigen Raum, der Tagesschau, die im Jahr 2020 im Mittel täglich von fast zwölf Millionen Menschen verfolgt wurde. Im gesamten Jahr 2020 griffen das Thema Hunger lediglich neun der insgesamt über 3000 ausgestrahlten Beiträge (ohne Sport und Wetter) auf. (Zum Vergleich: Mit der Corona-Pandemie beschäftigten sich im selben Zeitraum fast 1300 Beiträge.) Die Berichte zum Thema Hunger sind häufig nicht nur sehr kurz, sondern werden in der Regel auch nur in der zweiten Sendungshälfte ausgestrahlt.
Noch nie ist der globale Hunger in den politischen Talkshows wie „Anne Will“, „Hart aber Fair“, „Maybrit Illner“ oder „Maischberger“ zum Diskussionsthema gemacht worden, obwohl jeden Tag Millionen von Menschen davon betroffen sind. Fast scheint es, dass der Hungertod von Tausenden Menschen, der sich tagtäglich ereignet, für alltäglich genommen wird und daher seinen Status als „berichtenswerte“ Nachricht verloren hat. Dass in der Tagesschau allgemein die Sendezeit für die Sportergebnisse diejenige für den Globalen Süden ohne die MENA-Region übertrifft, gibt zu denken.
Während der Corona-Pandemie ist der Globale Süden in der Aufmerksamkeit noch weiter in den Hintergrund gerückt. In den Jahren 2020 und 2021 berichtete die ARD-Nachrichtensendung zum Beispiel in lediglich etwa vier Prozent ihrer Sendezeit, die sich mit den Auswirkungen der Pandemie beschäftigte, über die Lage in den Ländern des Globalen Südens. Von den insgesamt 54 Staaten, die in der Tagesschau im Jahr 2021 kein einziges Mal erwähnt wurden, gehören 52 zum Globalen Süden.
Auch das Thema Hunger wurde entsprechend vernachlässigt. Die Welthungerhilfe sprach im Jahr 2021 von einer „stillen Tragödie“, die immer mehr in den Hintergrund rückte, und der Exekutivdirektor des World Food Programme warnte bereits 2020 in einer medial wenig beachteten virtuellen Sitzung des UN-Sicherheitsrates vor einer „Hunger-Pandemie“ im Schatten der Corona-Pandemie.
Die mediale Aufmerksamkeit für Staaten des Globalen Südens ist nicht nur sehr selektiv, sondern auch ausgesprochen flüchtig. Im vergangenen Jahr wurde intensiv über die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan berichtet, dass laut den Vereinten Nationen gegenwärtig etwa 23 Millionen Menschen (und damit mehr als die Hälfte der Bevölkerung) im Land unter „akutem Hunger“ leiden, wird aber nur peripher registriert. Das Thema Hunger scheint in den Augen der Redaktionen offensichtlich weniger Relevanz zu besitzen.
Besonders aufwühlend erscheint die Lage, weil es sich beim globalen Hunger um ein durchaus lösbares Problem handelt. In der Tat bezeichnete das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen Hunger als „das größte lösbare Problem der Welt“. So gehen Schätzungen davon aus, dass die aktuellen Rekordernten ausreichen würden, um bis zu 14 Milliarden Menschen zu ernähren. Laut dem International Institute for Sustainable Development (IISD) werden global jährlich 12 Milliarden Dollar zur Hungerbekämpfung ausgegeben. Der ehemalige deutsche Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, der Hunger wiederholt als Mord bezeichnete, bezifferte die notwendige Summe zur Beendigung des Hungers bis zum Jahr 2030 auf 40 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr. Die Summe mag hoch erscheinen, verblasst allerdings neben den vom schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI auf 1984 Milliarden Dollar geschätzten globalen Militärausgaben im Jahr 2020. SIPRI wies darauf hin, dass die Ausgaben trotz Pandemie gegenüber dem Vorjahr um 64 Milliarden Dollar gestiegen sind und einen Höchststand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1988 markieren.
Wie lange könnte sich die Politik der Lösung des „größten lösbaren Problems der Welt“ verweigern, wenn der globale Hunger zu einem Topthema in den Medien und damit auch in der Öffentlichkeit gemacht werden würde? Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur, wie viel Geld uns eine Welt ohne Hunger wert ist, sondern auch, wie viel mediale Zeit und Aufmerksamkeit.