Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Augustusburg ist ein hübsches Städtchen in Mittelsachsen, das es nicht nur aufgrund des weithin sichtbaren gleichnamigen Schlosses zu gewisser Bekanntheit gebracht hat. Vielmehr laboriert dort seit 2013 ein überaus beliebter Bürgermeister, der mit reichlich kommunaler Rückendeckung so ziemlich vieles anders macht als der Rest der Republik. Vorschreiben ließ und lässt er sich nichts, weder in der Flüchtlings- noch in der Corona-Krise.
Anfang der Woche wurde der eigenwillige Lokalpolitiker Dirk Neubauer aus seinem Sommerurlaub auf die Bühne der Berliner Politik befördert – durch ein Interview in einem ziemlich bekannten Podcast. Fünf Wochen vor der Bundestagswahl sagt er darin zwei Sätze, die tief in seine Gemütslage blicken lassen: „Wenn wir nicht alle Leute verlieren wollen, die noch etwas wollen in diesem Land, wären wir gut beraten, das Kümmern durch das Ermöglichen zu ersetzen. Denn das Kümmern hat diese Hybris: Wir wissen, was für euch gut ist.“
Neubauer war bis vor kurzem Mitglied der SPD. Doch mit einer derartigen Gesinnung hat er in dieser Partei nichts verloren, deren früherer Generalsekretär und heutiger Kanzlerkandidat sich bereits 2002 mit seinem Postulat, die „Lufthoheit über die Kinderbetten“ erobern zu wollen, politisch unzweifelhaft verortet hat.
Liberal, aber nicht aalglatt
Konsequenterweise ist der Bürgermeister im Mai aus der SPD wieder ausgetreten und derzeit parteilos. Zur CDU und ihrem riesigen, von oben durchregierten Apparat würde der Freigeist freilich auch nicht passen. Wählen, sagte Neubauer, würde er wahrscheinlich die Grünen, was Sinn ergäbe, wenn man an die Grünen von früher dächte als eine wenig etatistische Partei, die sie einmal gewesen sind. Aber heute?
Wenn man genauer zuhört, dann müsste das Ex-SPD-Mitglied eigentlich etwas ganz anderes verkünden. Dass er nämlich der FDP nahestehe. „Wir haben eine Hybris etabliert, die den Menschen ein Vollkasko-Leben verspricht“, wetterte er auch. All das passt genau in das Profil der Liberalen, die Eigenverantwortung und Privatinitiative seit jeher großschreiben. Nur wird er sich mit dem smarten, mitunter kalt-glatten Christian Lindner kaum identifizieren können.
Kurz: Solche wie Neubauer lassen sich in kein politisches Schema ein- oder gar einer Partei zuordnen. Ausgerechnet solche wie ihn kann Deutschland aber gut gebrauchen: lokal verortet, pragmatisch, authentisch, eigenwillig, kreativ und vor allem engagiert.
So manifestieren sich die Schwächen des politischen Systems, in dem sich die politischen Eliten von der Bevölkerung entfernt und die Parteien ihre Bindungskraft verloren haben, nicht nur in der Politikverdrossenheit breiter Teile der Bevölkerung, sondern bedauerlicherweise und besonders schmerzhaft gerade in jenen, die sich ernsthaft politisch engagieren.