Verlorene Größe

Wie aus einem ideologiefreien Land eine rot-blau polarisierte Nation werden konnte

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IMAGO IMAGES/EVERETT COLLECTION
„Aber die USA könnten ein großartiges Land sein“, sagt Will McAvoy (Jeff Daniels) zu seiner Produzentin MacKenzie McHale (Emily Mortimer) in Aaron Sorkins TV-Serie „The Newsroom.“
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„Aber die USA könnten ein großartiges Land sein“, sagt Will McAvoy (Jeff Daniels) zu seiner Produzentin MacKenzie McHale (Emily Mortimer) in Aaron Sorkins TV-Serie „The Newsroom.“

Verlorene Größe

Wie aus einem ideologiefreien Land eine rot-blau polarisierte Nation werden konnte

„America is not the greatest country in the world anymore“. In der US-Fernsehserie „The Newsroom“ aus dem Jahr 2012 bringt dieses öffentliche Bekenntnis den Protagonisten der Serie, den prominenten Nachrichtensprecher eines fiktiven Kabelsenders, erheblich in Bedrängnis. Seiner immer noch sehenswerten Aufzählung der vielen Gründe, warum Amerika nicht mehr das beste Land der Welt sei, setzt dieser Will McAvoy die Erinnerung entgegen, dass es eine Zeit gegeben habe, in der „we didn’t identify ourselves by who we voted for in the last election“.

Tatsächlich ist es schon einige Zeit her, dass nicht ihre Anhänger- oder Gegnerschaft zum jeweiligen Präsidenten und seiner Partei die Identität vieler US-Amerikaner prägte, sondern die Mischung aus sich überlappenden Zugehörigkeiten: Beruf, Wohnort, bevorzugtes Footballteam, Familienstand, Religion oder auch Herkunft der Vorfahren waren für das eigene Selbstverständnis wichtiger als die Frage, welchem Kandidaten man bei der Präsidentschaftswahl seine Stimme gegeben hat und welchem Fernsehkanal man vertraut.

Die inzwischen eingetretene rot-blaue Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft irritiert umso mehr, als die USA noch in den 1960er-Jahren als Land „ohne Ideologien“ galten. Neben der Absage an die „Fairness Doctrine“, die bis in die 1980er-Jahre für eine ausgewogene Berichterstattung der großen Networks sorgte, ist die Zuspitzung des Parteienwettbewerbs vor allem auf Entwicklungen zurückzuführen, die mit der Neuausrichtung der Demokratischen Partei in den Südstaaten während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre begannen.

Bis zu diesem sogenannten „Southern Realignment“ garantierte die Dominanz der Demokraten in den Staaten der früheren Konföderation die dortige faktische Rassentrennung. Um zu verhindern, dass sich ihr konservativer Südstaaten-Flügel immer weiter vom liberalen Teil der Partei im Nordosten des Landes entfernte, aber auch als Reaktion auf den „Civil Rights Act“ und den „Voting Rights Act“ von 1964/65, vollzog die Demokratische Partei in den Südstaaten eine mühsame programmatische Kehrtwende, die die Wählerschaft landesweit in Bewegung versetzte. Die Demokraten büßten an Unterstützung im weiterhin konservativen und tendenziell rassistischen Süden ein, gleichzeitig orientierte sich die Wählerschaft in den ehemals liberalen Parteihochburgen der Republikaner im Nordosten des Landes neu und wandte sich der nun geschlossen auftretenden Demokratischen Partei zu.

Die Neuausrichtung der Parteien vor allem entlang der Rassenfrage beseitigte also eine spezifisch amerikanische Anomalie – nämlich den extremen Dualismus innerhalb einer politischen Partei. Sie bereitete aber auch den Boden für einen zunehmend ideologisch ausgerichteten Wettbewerb zwischen den beiden großen Parteien, der durch mediale Verstärkereffekte und die Einmischung finanzstarker Lobbygruppen zusätzlich befeuert wird.

Die aktuelle Unversöhnlichkeit der politischen Lager in den USA hat demzufolge eine jahrzehntelange Tradition, in der die Rassenfrage eine größere Rolle spielt, als man in Europa angesichts der Begeisterung für den angeblichen US-amerikanischen „Melting Pot“ lange Zeit glauben wollte.

Es wäre also falsch, die Präsidentschaft Donald Trumps für diese Spalttendenzen ursächlich verantwortlich zu machen. Richtig ist aber, dass Trump vom Auseinanderdriften der Lager profitierte und es mit den Mitteln einer geschickten (digital verstärkten) Rhetorik, der Gesetzgebungs- bzw. Verordnungstätigkeit sowie einer gezielten Steuer- und Finanzpolitik seiner Regierung sogar gezielt schürte.

Egal wie die Wahlen letztlich ausgehen – diese Spaltung wird andauern: Die Sklaverei wurde zwar durch das 13. Verfassungs-Amendment im Jahr 1865 formell abgeschafft. Ungeachtet der Erfolge des Civil Rights Movements genau einhundert Jahre später leiden die Nachfahren der Leidtragenden und mit ihnen die gesamte amerikanische Gesellschaft aber bis heute an der offenen Wunde Rassismus.

Dazu tragen auch die auf Ebene der Einzelstaaten geregelten Modalitäten der Wählerregistrierung bei, die Schwarze, aber auch Hispanics, vielerorts nachweisbar benachteiligen. Vor allem aber verstärkt die Verbindung von Mehrheitswahl- und Elektorensystem die Spaltung zwischen den liberal eingestellten Besserverdienern in den großen amerikanischen Metropolen und der Bevölkerung in den ländlichen Regionen.

Als Hillary Clinton im September 2016 in einer unbedachten Stellungnahme die Hälfte der Anhängerschaft Trumps dem „Basket of Deplorables“ zuordnete, vergaß sie offenbar, dass dieser Teil der Wählerschaft zwar in den liberalen „Mainstream-Medien“ und bei deren Rezipienten wenig Verständnis und noch weniger Sympathien genießt (was auf Gegenseitigkeit beruht), aber unter Umständen von den verzerrenden Effekten des indirekten Mehrheitswahlsystems in Kombination mit dem überproportional hohen Stimmgewicht der bevölkerungsärmeren und vorwiegend ländlich strukturierten Einzelstaaten profitiert. Der aktuelle Stand der Auszählung vermittelt den Eindruck, dass die Nachwelt diesen Fehler nicht nur Joe Bidens Wahlkampagne, sondern auch den Demoskopen zuschreiben wird.

Die außergewöhnlich hohen Hürden für eine Verfassungsänderung werden selbst nach der Schreckenswahl des Jahres 2020 (und davon kann man angesichts der verfrühten Stellungnahmen des amtierenden Präsidenten bereits jetzt ohne Einschränkung sprechen) – eine Reform des Elektorensystems verhindern. Leichter zu erreichen wäre die verbindliche Festlegung auf der Ebene der Einzelstaaten, das bisherige „Winner take all“-Prinzip durch ein Proporzsystem zu ersetzen. Auf jeden Fall ist zur Befriedung des Landes aber viel mehr erforderlich als Verfassungsrecht: verantwortungsvoll handelnde und integrativ wirkende Persönlichkeiten in Politik, Medien und Verbänden, deren langfristiges Ziel es sein muss, weder den Wohnort noch die Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten zur Identitätsfrage und damit zur Grundlage für die Spaltung dieser eigentlich doch großartigen Nation werden zu lassen.

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