Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Für Deutschland ist der Kollaps von Wirecard ein Desaster: geschädigte Anleger, ein enormer Reputationsverlust des Kapitalmarkts, dazu der vermeintliche Beweis, dass deutsche Tech-Unternehmen das ganze große Rad wohl doch nicht drehen können. Dann die Schande für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die Finanzaufsichtsbehörde Bafin, die privatrechtlich organisierte „Bilanzpolizei“ DPR, für EZB und Bundesbank. Sie alle wollten die Betrugsmanöver von Wirecard nicht wahrhaben.
Wie bei Skandalen solchen Umfangs üblich, wird sofort die Systemfrage gestellt. Derzeit steht die Qualität des Prüf- und Aufsichtsgeflechts in Frage. Ist es Marktteilnehmern gewachsen, die jenseits der Grenzen von Ländern und Geschäftsfeldern operieren?
Auf den zweiten Blick lautet die Antwort: Ja – aller Kritik zum Trotz. Bei Wirecard hat nicht das System versagt, sondern die Menschen begingen folgenschwere Fehler – die Wirtschaftsprüfer mit einem Testat trotz eklatanter Ungereimtheiten, die Aufsichtsbehörden, die sich davon blenden ließen und trotz vieler Hinweise nicht reagierten. Eine solche Zusammenballung kommt sehr selten vor.
Man könnte somit eine andere Deutung dieses Bilanzskandals versuchen: Ist Wirecard nicht genau jene extravagante Ausnahme, die die Regel eines erstaunlich gut funktionierenden Kontrollsystems für Rechnungslegung bestätigt? Schließlich ist die Vorstellung, dass sich alles bis ins Letzte prüfen lässt, kaum mehr als eine Illusion. Selbst gestrenge Prüfer müssen darauf vertrauen, dass sie gerade nicht aufs Raffinierteste betrogen werden. Und das ist richtig so.
Als „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“ hat der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann den Begriff des Vertrauens einst definiert. Setze man statt auf Vertrauen nur auf Kontrolle, müssten enorm hohe Transaktionskosten geschultert werden. Vertrauen ist mit Risiko verbunden. In der Regel aber sind die Risikoprämien enttäuschten Vertrauens viel geringer als die Transaktionskosten absoluter Kontrolle.
Die gesamte Wirtschaft einschließlich des Kapitalmarkts lebt von Vertrauen, nicht von Testaten. Müsste sie von der Kontrolle leben, käme sie bald zum Stillstand. Die ganz überwiegende Zahl der Wirtschaftssubjekte hat nicht die Absicht zu betrügen. Genau auf die ist auch das sehr gut funktionierende System der Bilanzprüfung ausgerichtet. Nicht Kontrolle und Misstrauen befördern Prosperität, sondern Vertrauen. Das gilt auch dann, wenn es in seltenen Einzelfällen teuer wird.