Persönliche Rechnungen: Russinnen und Russen hadern mit ihrer Mitverantwortung für einen Angriffskrieg. Die Frage stellt sich aber auch für Deutschland
Persönliche Rechnungen: Russinnen und Russen hadern mit ihrer Mitverantwortung für einen Angriffskrieg. Die Frage stellt sich aber auch für Deutschland
„Wir hätten was gegen unseren ‚Führer‘ tun müssen, als er sich aufblies. Aber es hieß ja immer: Bloß keine Politik! Jetzt sehen wir, was dabei rauskommt. Das ist unsere Schuld.“
Das sagt eine Figur in der neuesten Folge der in Russland sehr beliebten YouTube-Zeichentrickserie „Masyanya“. Es bringt auf den Punkt, was viele Menschen im In- und Ausland beschäftigt: Wie konnte es dazu kommen, dass die russische Armee am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel? Den Befehl gab Präsident Putin. Aber er hat das im Namen Russlands getan und damit alle Bürger und Bürgerinnen des Landes in Mitverantwortung genommen. Sie haben nicht die Wahl, sich herauszuhalten. Wer sich nicht spätestens jetzt im Rahmen seiner Möglichkeiten gegen diesen Angriffskrieg engagiert, trägt ihn mit.
Der Trickfilm findet eine eigene Antwort: Die Titelheldin Masyanya sucht Wladimir Putin in seinem Bunker auf und erklärt ihm, es gebe aus diesem Desaster einen einzigen halbwegs würdigen Ausweg. Dann überreicht sie ihm einen japanischen Dolch.
Die Realität sieht anders aus. Viele Leute glauben der Propaganda, die ihnen im staatlichen Fernsehen vorgesetzt wird. Sie haben es nie gelernt, sich aktiv zu informieren, und der Zugang zu den verbliebenen unabhängigen Nachrichtenkanälen wird jetzt systematisch versperrt. Manche gehen weiter. Eine Bekannte aus Petersburg teilte mit, sie kämpfe jetzt aktiv an der „Informationsfront“ für Russland – ohne irgendetwas anderes zu wissen oder auch nur wissen zu wollen als das, was ihr offiziell vorgesetzt wird.
Wer besser informiert und mit dem Krieg nicht einverstanden ist, findet sich in einer schwierigen Situation wieder. Am 18. März sprach Putin in einer Rede von einer notwendigen „Selbstreinigung der Gesellschaft“ und „Gesindel und Verrätern“ im eigenen Land. Das ist eine Drohung gegen alle, die das Regime nicht unterstützen. Zahlreiche Menschen haben Russland von einem Tag auf den anderen verlassen oder bereiten ihre Ausreise vor. Einige von ihnen haben sich offen oppositionell geäußert oder engagiert. Andere müssen befürchten, zur Armee eingezogen zu werden. Und wieder andere möchten einfach nicht in einem Land leben, das weltweit isoliert ist und auf einen wirtschaftlichen und politischen Abgrund zusteuert.
Eine Moskauer Bekannte, die vor Jahren mit ihren beiden Söhnen von Kiew nach Moskau zog und die russische Staatsbürgerschaft annahm, ist entsetzt von der Vorstellung, die Jungen könnten eingezogen werden und müssten dann mit der russischen Armee die Stadt überfallen, in der sie aufgewachsen sind. Sie sucht verzweifelt nach Wegen, sie aus dem Land zu bringen. Ein Freund, ein ehemaliger Journalist, musste neulich erfahren, dass seine ehemalige Kollegin Oksana Baulina bei einem russischen Angriff getötet wurde, als sie aus Kiew berichtete. Er hatte sich schon vorher sehr klar und mutig gegen den Krieg geäußert, sich an Kundgebungen beteiligt und andere dazu aufgerufen. Jetzt, so schreibt er zornig und fassungslos, habe er mit dem Putin-Regime auch eine persönliche Rechnung offen.
Viele Russinnen und Russen haben in den vergangenen Jahren daran gearbeitet, gegen alle Widerstände und Einschüchterungsversuche eine Zivilgesellschaft aufzubauen – durch publizistische Arbeit, in lokalen Bürgerinitiativen, karitativen Stiftungen, wissenschaftlichen und kulturellen Projekten oder einfach in ihrem privaten Umfeld. Sie haben sich dort, wo es unumgänglich schien, mit dem Regime arrangiert, in der Hoffnung, das Land nach und nach zum Besseren zu verändern. Nun stehen sie vor den Trümmern ihrer Arbeit und ihrer Hoffnungen. Die Entwicklung hat sie überrollt. Alles, was sie getan haben, um einen Wandel herbeizuführen, ist angesichts dieses Krieges belanglos geworden.
Der russische Staat hat die Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements schon seit Jahren systematisch immer weiter eingeschränkt. Menschenrechtsorganisationen wie Memorial wurden verboten, Kooperationen mit ausländischen Einrichtungen kriminalisiert. Eine Folge der Sanktionen ist auch, dass diese Arbeit jetzt noch weiter erschwert wird. Initiativen wie die Petersburger Stiftung AdVita, die die medizinische Versorgung krebskranker Kinder unterstützt, sind plötzlich von Spendengeldern aus dem Ausland abgeschnitten. Die onkologischen Kliniken, mit denen die Stiftung kooperiert, erhalten wichtige Medikamente nicht mehr und können Gewebeproben nicht mehr zur diagnostischen Abklärung an deutsche Referenzkliniken schicken.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können nicht mehr im Namen ihrer Institutionen in internationalen Publikationen veröffentlichen und an Tagungen teilnehmen. Viele empfinden das als ungerecht. Sie begreifen ihr Institut als ihr Zuhause, es ist eng mit ihrem Selbstverständnis verbunden. Dass es eine Einrichtung ist, die vom russischen Staat finanziert wird, und dass sie selbst in Diensten dieses Staates stehen, haben sie oft verdrängt; jetzt sind sie damit konfrontiert.
All diese Schwierigkeiten sind Folgen eines Angriffskrieges, dessen Opfer nicht in Russland zuhause sind: Es sind die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, deren Land überfallen wurde und deren Städte in diesen Tagen in Schutt und Asche gelegt werden. Sie sterben durch russische Waffen, werden belagert, nach Russland deportiert oder müssen aus ihrer Heimat fliehen. Diejenigen, die sich den Angreifern entgegenstellen, verteidigen nicht nur die Unabhängigkeit der Ukraine: Sie verteidigen eine Gesellschaft, die den Menschen die Freiheit lässt, ihr Leben selbst zu gestalten. Sie kämpfen um das, was für uns selbstverständlich geworden ist.
Und hier stellt sich auch die Frage nach unserer eigenen Mitverantwortung: Deutsche Gas- und Ölkäufe spülen jeden Tag hunderte Millionen Euro in Putins Kasse. Ein kurzfristig umgesetztes Embargo könnte die Kriegsmaschinerie nach Ansicht von Experten erheblich beeinträchtigen.
Das würde uns etwas kosten – als Gesellschaft, als Wirtschaft, als Einzelne. Aber wenn Russland mit der Strategie des brutalen Eroberungskriegs Erfolg hat, wären die Kosten langfristig höher. Die Frage nach der Verantwortung für den Krieg und seine schnelle Beendigung geht nicht nur die Bürger und Bürgerinnen von Russland an. Auch wir haben allen Grund, in den Spiegel zu schauen.