Union und FDP sollten nicht den Anschein erwecken, dass die Partei als Koalitionspartner oder Stütze einer Minderheitsregierung infrage kommt
Union und FDP sollten nicht den Anschein erwecken, dass die Partei als Koalitionspartner oder Stütze einer Minderheitsregierung infrage kommt
Es gibt Sätze, die hätten Politiker im Interesse der Demokratiehygiene besser nicht gesagt. In erhöhter Konzentration fallen diese Sätze im zeitlichen Nahbereich von Wahlen. Nach der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus rief Markus Söder aus der Ferne, es wäre eine „grobe Missachtung der Demokratie“, sollte eine Regierung ohne den Wahlsieger CDU gebildet werden. Die rechnerische Mehrheit aus SPD, Grünen und Linken hätte „überhaupt keine Legitimation“, erklärte Söder. Der Berliner CDU-Generalsekretär Stefan Evers nahm für dieses Szenario gar den Begriff vom „Wahl-Klau“ in den Mund. Andere CDU-Politiker erdichteten ein Wahlgesetz, das dem Erstplatzierten einen „Regierungsauftrag“ verschaffen würde, den das geltende deutsche Wahlsystem nur eben gar nicht kennt. Von „Anstand“ war ebenfalls die Rede. Und auch ein gewisser Olaf Scholz erfand nach der Bundestagswahl 2021 eine vermeintliche Gesetzmäßigkeit: „Parteien, die abgewählt sind, sollten nicht versuchen, eine Regierung zu bilden.“
Im nächsten Jahr könnten diese Sätze ihre Dichter in gehörige Erklärungsnöte bringen. Dann finden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg statt. In jedem dieser Länder liefert sich die AfD laut jüngsten Umfragen von Infratest dimap ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Partei des Ministerpräsidenten. INSA weist die AfD sogar in allen drei Ländern auf Platz eins aus, überschätzte die Rechtsaußen-Partei allerdings in der Vergangenheit mehrmals. Trotzdem: Der AfD könnte 2024 der erste Landtagswahlsieg ihrer Parteigeschichte gelingen. Und dann? Niemand aus den demokratischen Parteien würde die Regierungsbildung ohne die stärkste Kraft in diesem Fall eine „Missachtung der Demokratie“ nennen oder von mangelndem Anstand sprechen. Die AfD wird diese Aussagen dann genüsslich rauf und runter zitieren.
Jammerschade, dass es ausrechnet dann um die Glaubwürdigkeit solcher ungeschriebenen Gesetze schlecht bestellt sein wird, wenn sie wirklich einmal gebraucht werden. Nötig wäre ein Leitsatz, der besagt, dass es die Achtung der Demokratie erforderlich macht, eine Regierung ohne den Wahlsieger zu formen, wenn dieser angetreten ist, um die repräsentative Demokratie zu beseitigen. Schließlich sind die ostdeutschen Landesverbände der AfD die radikalsten, in Thüringen stuft der Landesverfassungsschutz die Partei als „gesichert rechtsextrem“ ein.
Am ehesten ist derzeit ein Wahlsieg der AfD in Sachsen und Thüringen denkbar. Schon bei den vergangenen Landtagswahlen landete sie dort auf Platz zwei. Der Unterschied zu damals: Die AfD formuliert für das kommende Jahr erstmals offiziell das Ziel, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen. Selbstverständlich ist diese Aussage primär ein strategischer Zug, der die CDU unter Druck setzen und die eigene Basis mobilisieren soll. Zumal bei der Koalitionsfähigkeit Anspruch und Ausrichtung der AfD kaum weiter auseinanderliegen könnten. Nach ihren Metamorphosen von einer nationalkonservativen Anti-Europartei über eine rechtspopulistische Anti-Migrationspartei hin zu einer radikal rechten Anti-Systempartei ist die AfD heute gänzlich koalitionsunfähig. Doch gerade wegen dieser aussichtslosen Lage außerhalb des Verfassungsbogens, setzte der AfD-Bundesvorstand seine Regierungsabsicht als Hauptbotschaft zum zehnjährigen Parteigeburtstag im Februar. Denn abgesehen von der eisernen Stammklientel wollen Wählerinnen und Wähler schließlich darüber mitentscheiden, wer am Ende regiert. Die triste Aussicht auf weitere Jahre Fundamentalopposition wirkt auf der entscheidenden Meile eines Wahlkampfs als Mobilisierungsbremse.
Auch wenn es realitätsfern ist, kann die AfD also gar nicht anders, als zu behaupten, dass sie regieren wolle. Wie realitätsnah ein solches Ziel jedoch wirkt, hängt von den anderen Parteien ab. Die deutlichen Absagen der CDU-Vorsitzenden in Sachsen und Thüringen, Michael Kretschmer und Mario Voigt, nicht mit der AfD zusammenzugehen, sind zunächst einmal glaubwürdig. Die Krux liegt jedoch vielmehr in der Frage: Wo fängt Zusammenarbeit an? Gilt zusammenstimmen – unabgesprochen, aber für das Zustandekommen einer Mehrheit entscheidend – als zusammenarbeiten? Solche Fälle gab es nun schon mehrmals, auf Kommunalebene noch vermehrter und willentlicher. In Thüringen argumentierte die CDU zuletzt, dass man ja als demokratische Opposition die Arbeit einstellen müsste, wenn man aus Angst vor AfD-Stimmen keine eigenen Anträge mehr stellen würde. Das ist ein Argument, durchaus gewichtig, aber in dieser schwierigen Abwägung womöglich nicht das entscheidende. Denn gerade in Thüringen genießt die CDU weiterhin einen privilegierten Einfluss auf die Minderheitsregierung von Bodo Ramelow. Erst kürzlich hat der linke Ministerpräsident die CDU und FDP zu Vorabgesprächen über den Landeshaushalt 2024 eingeladen, weil er ihre Präferenzen berücksichtigen wolle.
So stellt sich mit Blick auf die Wahlen die Frage, wem die gemeinsamen Mehrheiten am meisten nutzen. Das ist vermutlich die AfD. Denn jede Mehrheit, die nur mit ihren Stimmen zustande kommt, ist für sie ein seltener wie überlebenswichtiger Ausweis politischer Wirksamkeit. Er wird umso wertvoller, wenn es wie im November in Erfurt um AfD-Kampagnenthemen wie das Gendern geht. Solche Leitungsnachweise braucht die AfD, um Wählerstimmen zu halten und weitere zu mobilisieren. Denn unterm Strich stellt sich für die AfD und ihre Anhängerschaft im nächsten Jahr exakt diese Frage: Wirksamkeit oder Wirkungslosigkeit? Jedes bisschen programmatische Umsetzung, das andere Parteien der AfD ermöglichen, ist ein strategischer Fehler. Jede Form der Integration in den Parlamenten stärkt die Partei rechts der demokratischen „Brandmauer“. Nur mit Isolation wird man ihr langfristig beikommen können. Und das erfordert einen langen Atem.
Nach einem möglichen Wahlsieg der AfD in den ostdeutschen Ländern wird es also demokratische Standhaftigkeit brauchen. Die CDU und FDP sollten nicht einmal den Anschein erwecken, dass die AfD als Koalitionspartner oder Stütze einer Minderheitsregierung infrage kommt. Jedes Signal, jede Sondierung in diese Richtung normalisiert den Gedanken daran, dass eine radikal rechte Kraft auf irgendeine Weise an der Macht in diesem Land beteiligt werden könnte.
Die Pointe dieser durchaus komplizierten Ausgangslage für die Wahlen in Ostdeutschland könnte jedoch von ganz anderer Seite beigesteuert werden: Derzeit verdichten sich die Hinweise, dass Sahra Wagenknecht mit einer neuen Partei zur Europawahl 2024 antreten wird. Die Europawahlen finden vor den drei Landtagswahlen statt. Allerdings würde es die Etablierung einer Wagenknecht-Partei deutlich erschweren, wenn man bei den Europawahlen vor dem Sommer, aber nicht bei den Landtagswahlen nach dem Sommer antreten würde. Man kann also nicht ausschließen, dass sich die neue Partei im nächsten Jahr auch auf Landesebene zur Wahl stellt. Über das Potenzial einer „Liste Wagenknecht“ ist bekannt, dass dieses zwar nicht für ganz vorne reicht, aber insbesondere unter derzeitigen AfD-Wählern relativ hoch ist. Zu Ende gedacht: Wagenknecht könnte der CDU zum Wahlsieg verhelfen, weil sie sowohl der AfD als auch der Linken Stimmen abluchst. Dann bliebe Markus Söder zumindest die Schmach erspart, aus dem Süden zurückrufen zu müssen, dass der Wahlsieger diesmal auf keinen Fall regieren dürfe.