Was wird aus Deutschland?

Internationale Erwartungen an die neue Regierung in Berlin

Bitte mehr Europa wagen

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SHUTTERSTOCK.DE/KUNDRA (1)
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Was wird aus Deutschland?

Internationale Erwartungen an die neue Regierung in Berlin

Bitte mehr Europa wagen

Von Sabine Rau, Paris


„Wer wird deutscher Finanzminister?“, wird man in Paris immer wieder gefragt – und meist gibt sich der Fragesteller mit ahnungsvollem Stirnrunzeln selbst die Antwort: Christian Lindner!

Keine Frage, der FDP-Chef ist für die Franzosen eine Art rotes Tuch. Die Liberalen gelten hier als kompromisslose Hardliner in der europäischen Finanz- und Schuldenpolitik. Damit sind die Konflikte zwischen den beiden Nachbarn programmiert: Frankreich hat sich mit Milliardenhilfen in der Coronakrise hoch verschuldet und will eine dauerhafte Lockerung der europäischen Schuldenkriterien und voraussichtlich auch ein neues, milliardenschweres europäisches Investitionspaket. In Paris glaubt man, dass ein sozialdemokratischer Kanzler Olaf Scholz dort zu Kompromissen bereit ist. Um seine Erwartungen zu untermauern, hat Präsident Emmanuel Macron vor ein paar Tagen einen bemerkenswerten Tweet abgesetzt: „Danke, liebe Angela“, schrieb er an die scheidende Bundeskanzlerin in geradezu unfranzösischer Direktheit, „für die Verabschiedung des europäischen Aufbauplans“, also des 750-Milliarden-Pakets und Merkels Kehrtwende in Sachen europäischer Gemeinschaftsverschuldung. Der Élysée hofft auf Unterstützung der neuen Bundesregierung für diesen Kurs.

Anders als in der Atompolitik. Frankreich setzt mit Verve auf eine Renaissance der Kernkraft. Keine Rede mehr vom Atomausstieg. Im Gegenteil: Macron hat erst kürzlich den Bau neuer, kleinerer Reaktoren angekündigt. Und der staatliche Energiekonzern EDF hat den Franzosen diese Woche mit einer Studie vorrechnen lassen, dass der künftige Energiebedarf nur mit Laufzeitverlängerungen und neuen Atomkraftwerken finanziell zu decken sei. Außerdem gilt die Nukleartechnologie in Frankreich als klimafreundlich, anders als die scharf in der Kritik stehenden deutschen Kohlekraftwerke mit ihren CO2-Emissionen. Mehr noch: Paris will in Brüssel mit aller Macht die Anerkennung von Kernkraftwerken als grüne Technologie durchsetzen – durchaus in dem Bewusstsein, damit in einen offenen Konflikt mit einem künftigen grünen deutschen Umweltministerium zu geraten.

Frankreichs Präsident selbst hat sich bislang mit keiner Silbe zur künftigen deutschen Bundesregierung geäußert. Aus gutem Grund: Als Macron 2017, direkt nach der Bundestagswahl, seine berühmte Sorbonne-Rede mit weitreichenden europapolitischen Ideen hielt, in der kühnen Hoffnung, dass sie in die Koalitionsverhandlungen einfließen könnten, sah er sich bitter enttäuscht: Keine Reaktion aus Berlin. Merkel ließ den jungen Präsidenten kühl abblitzen.

Das will Macron kein zweites Mal erleben – auch wenn Frankreich mit Ungeduld auf die Vereidigung der neuen Bundesregierung wartet. Immerhin hat sie schon einen französischen Namen: „feu tricolore“, Ampelkoalition. Macron braucht eine handlungsfähige deutsche Regierung, denn er übernimmt am 1. Januar den EU-Ratsvorsitz – für den Präsidenten eine entscheidende Etappe, wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im April 2022. Darin will er sich als entschlossener Erneuerer und zentrale europäische Führungsfigur präsentieren. Und er hat ehrgeizige Pläne.

Macron will zu einem „Gipfel zur europäischen Verteidigung“ einladen. Sein Ziel, europäische Souveränität, größere Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von den USA, hat er mehrfach formuliert. Die Hoffnung in Paris: Mit einer neuen deutschen Regierung könnte das Thema frischen Schwung bekommen, nachdem die konservativen Transatlantiker abgetreten sind.

Und noch etwas: Frankreich hofft auf eine nennenswerte Aufstockung des deutschen Militär-Einsatzes in Afrika – auch wenn man sich diesbezüglich wenig Illusionen macht. Mit „feu tricolore“, weiß man, dürfte das schwierig werden.

Immerhin: Den Nikolaustag hat man sich in Paris im Kalender vorgemerkt, in der Hoffnung, dass die deutsche Regierung dann steht.

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