Europa muss endlich ein eigenständiger Akteur werden – und China jenseits von Ideologie und Anbiederung gegenübertreten
Europa muss endlich ein eigenständiger Akteur werden – und China jenseits von Ideologie und Anbiederung gegenübertreten
„Der Aufstieg des Ostens und der Niedergang des Westens ist ein irreversibler Trend, die internationale Landschaft verändert sich zu unseren Gunsten“. Das sagt Chen Yixin, ein enger Vertrauter des chinesischen Präsidenten. Hat Chen Recht?
Was vor zwei Jahrzehnten noch aussah wie der Abschied von der bipolaren und der Beginn einer multipolaren Welt, verändert sich dramatisch schnell in einen neuen globalen Wettstreit zwischen zwei Großmächten, diesmal den USA und China – und zum Nachteil Europas, wenn der Kontinent sich nicht geopolitisch neu aufstellt.
China wird am Ende des Jahrzehnts die global stärkste Volkswirtschaft sein, bis 2035 in allen neuen Technologien dominieren. Es gibt kaum Zweifel, dass das Land dieses strategische Ziel erreichen wird, so viel Kapital und Manpower steckt Peking in Forschung und Entwicklung von zehn Schlüsseltechnologien. Doch die beunruhigendste Veränderung ist die Modernisierung der Volksarmee, die bis 2027 abgeschlossen sein soll und China in eine bessere Ausgangslage bei einem potentiellen Konflikt mit den USA wegen Taiwan versetzen soll. Damit ist Xi Jinping strategisch in der Lage, eine Wiedervereinigung mit Taiwan anzustreben – notfalls mit Gewalt. Historisch würde ihn das auf eine Stufe mit Mao Zedong setzen.
Doch der chinesische Aufstieg ist kein Selbstläufer. Die Kommunistische Partei muss immer neu den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag einlösen: Akzeptanz des autoritären Einparteiensystems im Austausch gegen fortgesetztes Wachstum und steigenden Wohlstand für immer mehr Bürger. Zu Recht kritisieren wir die seit Xis Amtsantritt immer repressivere Innenpolitik, die massive Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang, Menschenrechtsverletzungen in Tibet und der inneren Mongolei, systematische Beschneidung der Freiheitsrechte in Hongkong, Zunahme der Repression gegen Intellektuelle, Künstler oder religiöse Organisationen.
Internationale Kritik an seiner Minderheitenpolitik lässt Peking nicht völlig unbeeindruckt, es reagiert beleidigt und verhängt Gegenmaßnahmen. Aber es weiß sich insgesamt auf sicherem Boden, solange Menschenrechtskritik aus dem Ausland von den Chinesen als Bevormundung Chinas empfunden wird. Nie wieder Demütigung durch ausländische Mächte – das ist eine tiefsitzende Lehre aus den vergangenen 150 Jahren. Die Mehrheit der Chinesen wird trotz Kontrollsystem und Beschränkung individueller Rechte hinter ihrer Regierung stehen, solange es ihnen am Ende eines Jahres besser geht als im Vorjahr.
Aber genau dort droht die Rechnung Xis nicht aufzugehen: Seine Wirtschaftspolitik erweist sich als kontraproduktiv. Immer stärkere Parteikontrolle und die Bevorzugung von staatlichen Unternehmen gegenüber innovativen Privatunternehmen, denen China seinen rasanten Aufstieg verdankt, beeinträchtigt das Vertrauen in die chinesische Wirtschaft und drosselt ihre Dynamik. Das ist die Achillesferse der chinesischen Entwicklung.
Gleichwohl ist Europas derzeitige Unfähigkeit, sich strategisch als eigenständiger Akteur in dem sich radikal wandelnden geopolitischen Umfeld zu etablieren, dramatisch. Wenn es den EU-27 in den nächsten Jahren nicht gelingt, eine handlungsfähige Werte- und Interessengemeinschaft zu werden, wird dieses Europa in dem sich anbahnenden Großmächtekonflikt völlig an den Rand gedrängt werden, unfähig, die Interessen seiner Bürger zu verteidigen.
Der zunehmend ideologisierte Diskurs um eine „strategische Autonomie“ Europas ist eine typisch europäische Übersprungshandlung. Es geht schließlich nicht um Äquidistanz gegenüber beiden Großmächten. Es geht auch nicht um einen graduellen Ersatz der transatlantischen Allianz durch eine europäische Verteidigung. Es geht um die Identifizierung europäischer Interessen und ihre bestmögliche Durchsetzung auf Grundlage unserer Werte – allein oder mit Partnern. Mit Amerika verbinden uns auch weiterhin mehr Interessen und Werte als mit China, aber sie sind nicht identisch.
Daraus ergeben sich vier Schlussfolgerungen.
Erstens: China einbinden. Europa hat ein Interesse an regelbasierter globaler Kooperation. Unsere jüngere historische Erfahrung prädestiniert die EU zum Brückenbauer und Architekten einer neuen funktionsfähigen globalen Ordnung. Deutschland und Frankreich als größte europäische Gesellschaften sollten dabei besondere Verantwortung übernehmen – nicht allein, sondern gemeinsam mit kleineren EU-Partnern. Nicht ideologische Ausgrenzung von China und anderen autokratischen Mächten ist die Lösung, sondern ihre pragmatische Einbindung – auf Basis klarer Regeln und Standards.
Zweitens: Die Anziehungskraft des Modells Europa zur Geltung bringen. Politisch rivalisierende Systeme wie das Chinas lassen sich nicht von außen verändern. Aber Europa kann Wandel durch Vorbildlichkeit generieren: Es kann und muss den Beweis erbringen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erfolgreicher sind als Autokratie und Staatskapitalismus. Das ist möglich, aber die EU muss zunächst ihre Hausaufgaben erledigen – Polen und Ungarn sind nur zwei Stichworte. Und Taten müssen Worten folgen. Wenn wir Kritik an inneren Missständen in China üben, müssen wir bereit sein, daraus spürbare Konsequenzen zu ziehen. Die Bereitschaft Großbritanniens, den Bürgern Hongkongs die vereinfachte Einbürgerung anzubieten, ist ein gutes Beispiel. Auch die Olympischen Spiele dürfen nicht tabu sein, etwa durch Abwesenheit politischer Führungskräfte wie 2008. Denn China will einen Gesichtsverlust unbedingt vermeiden.
Drittens: Rote Linien ziehen und einhalten. Europa akzeptiert das Prinzip der Ein-China-Politik, aber China muss sich seinerseits an internationales Recht halten. Wo Beijing eklatant dagegen verstößt, muss die EU bereit sein zu handeln. Die gewaltsame Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland ist so eine rote Linie. Ihre Verteidigung setzt allerdings Handlungswillen und Europas Fähigkeit voraus, den USA bei der Verteidigung Taiwans beiseitezustehen. Frieden und Stabilität sind nicht zum Nulltarif zu haben, auch nicht für Berlin. Deshalb ist ein deutlich höherer Beitrag Deutschlands zur europäischen Verteidigungsfähigkeit ein essentielles Element verstärkter Verantwortung.
Viertens: Innovatives Europa. Wirtschaftlich stehen wir im Gegenwind eines immer härter werdenden globalen Wettbewerbs. China und USA verteidigen ihre Interessen beinhart. Davor darf auch Europa nicht zurückschrecken: 5G ist gutes ein Beispiel. Im Kern innerer Sicherheit sollte die EU eigene Technologien entwickeln – zugleich in bestimmten Fällen aber auch mit China kooperieren. Gegenüber einer sich anbahnenden chinesischen technologischen Dominanz gibt es nur eine Strategie: mehr Kapital zur Entwicklung eigener europäischer Fähigkeiten. Woran es Europa dramatisch mangelt, ist politische Führung, Handlungswille und Selbstbewusstsein. Denn es bleibt dabei, dass China uns ebenso braucht wie wir China.