Deutschland sucht Fachkräfte und hat Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen, allein 910.000 Menschen aus Syrien. Was hindert sie daran, Erzieherin, Pfleger, Köchin, Maler, Heizungsbauer und Verwaltungsfachangestellte zu werden? Eine Annäherung an ein vielschichtiges Problem – und ein Systemversagen
Deutschland sucht Fachkräfte und hat Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen, allein 910.000 Menschen aus Syrien. Was hindert sie daran, Erzieherin, Pfleger, Köchin, Maler, Heizungsbauer und Verwaltungsfachangestellte zu werden? Eine Annäherung an ein vielschichtiges Problem – und ein Systemversagen
Siead möchte Pflegefachkraft werden. Er ist 35 Jahre alt und arbeitet seit sechs Monaten als Pflegehelfer in einem Seniorenheim. Dort sind alle begeistert, aber Siead darf die Ausbildung nicht anfangen, weil er keinen Schulabschluss nachweisen kann. Sein syrischer Heimatort liegt in Trümmern, eine Kopie des 17 Jahre alten Abiturzeugnisses ist nicht aufzufinden.
Manaf ist Englischlehrer und kam vor sieben Jahren hochmotiviert nach Deutschland. So schnell wie möglich wollte der damals 30-Jährige als Lehrer oder Erzieher arbeiten. 14 Monate wartete Manaf auf Aufenthaltserlaubnis und Integrationskurs, in der Unterkunft in einer abgelegenen ländlichen Gegend bekam er Depressionen. Auf Rat des Jobcenters – als Lehrer würde es ohnehin nicht klappen und Erzieher seien schlecht bezahlt – arbeitet er bis heute in einer Sicherheitsfirma.
Anas kam als Elektroingenieur aus Syrien. Da seine berufliche Erfahrung nicht anerkannt wurde, machte er eine Ausbildung zum Elektroniker. Ohne Führerschein findet der 52-Jährige jedoch keine Arbeit. Das Jobcenter bezahlt den Führerschein nur dann, wenn drei Firmen schriftlich bestätigen, Anas mit Fahrerlaubnis einzustellen – solche Zusagen machen Betriebe aber nur ungern. Der Elektroniker bleibt deshalb arbeitslos und bezieht Sozialleistungen.
Drei Syrer, deren Fähigkeiten als Pfleger, Erzieher und Elektriker Deutschland dringend braucht und die dennoch an bürokratischen Hürden scheitern. Dabei sind Siead, Manaf und Anas keine Einzelfälle, sondern typische Beispiele für das Systemversagen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Dieser ist überreguliert, unflexibel und undurchlässig – ein behäbiger Apparat, der Migrantinnen und Migranten ausbremst statt motiviert.
Die Situation ist paradox. Auf der einen Seite suchen Fachverbände des Handwerks, Industrie- und Handelskammern, das Gesundheitswesen, die öffentliche Verwaltung und der Verband Bildung und Erziehung händeringend Nachwuchs und Quereinsteiger, auf der anderen suchen Tausende Syrerinnen und Syrer eine sichere Arbeit. Warum finden sie nicht zueinander? Und wie ließen sich unnötige Hürden abbauen?
Neben formalen Anforderungen und langen Bearbeitungszeiten verhindern sprachliche Schwierigkeiten, struktureller Rassismus, die psychische Belastung und ein deutsches Ausbildungs- und Sozialsystem, das keine oder falsche Anreize setzt, seit Jahren, dass Syrer beruflich Fuß fassen. Das betrifft natürlich nicht nur syrische, sondern auch andere Geflüchtete. Die Syrerinnen bieten jedoch das beste Anschauungsmaterial, da sie als zweitgrößte Ausländergruppe Deutschlands besonders vielfältig und relevant sind.
Hunderttausende von ihnen sind in den vergangenen acht Jahren angekommen – Junge und Alte, Männer und Frauen, Muslime und Christen, Akademiker und Analphabeten. Sie stellen unter den Ausländern die größte Gruppe der Ärzte und den höchsten Anteil der Hartz-IV-Empfänger. Während knapp 6 Prozent der erwerbsfähigen Deutschen und 19 Prozent der erwerbsfähigen Ausländerinnen im Jahr 2021 Arbeitslosengeld II bezogen, waren es laut Agentur für Arbeit bei den Syrern 65 Prozent. Darunter sind viele sogenannte „Ergänzer“ – sie verdienen zu wenig, um den Lebensunterhalt ihrer Familie alleine zu sichern und bekommen deshalb zusätzlich Sozialleistungen.
Warum aber ist die Arbeitslosenquote unter den syrischen Migrantinnen höher als bei anderen Ausländergruppen, obwohl sie eine sichere Bleibeperspektive haben und Lokalzeitungen ständig über die Erfolge gut integrierter Syrer berichten? Das hat zwei Gründe. Erstens sind die allermeisten von ihnen noch nicht lange im Land – etwa im Vergleich zu Menschen aus der Türkei oder Polen – und erfahrungsgemäß sinkt die Arbeitslosenquote mit der Dauer des Aufenthalts. Zweitens ist der Anteil der Frauen mit 40 Prozent deutlich höher als bei Geflüchteten aus Afghanistan, dem Irak, Somalia oder Eritrea. Viele Syrerinnen sind später nachgezogen und müssen zunächst Deutsch lernen, außerdem kümmern sie sich in der Regel um die Betreuung der Kinder und stehen dem Arbeitsmarkt deshalb nicht zur Verfügung. Beide Besonderheiten verzerren die Statistik.
Zurück zu den Hindernissen. Ein Kernproblem ist die deutsche Fixiertheit auf Dokumente und damit verbundene lange Entscheidungsprozesse. Egal ob Schul- oder Universitätsabschluss, Arbeitszeugnisse, Nachweise über Ausbildungsinhalte oder Berufserfahrung, Pass oder Geburtsurkunde – für den Zugang zu Arbeit braucht man alles schriftlich.
Menschen aus Syrien haben es dadurch besonders schwer, denn sie haben meist eine lange und gefährliche Flucht hinter sich. Viele wurden in ihrer Heimat bombardiert und mehrfach vertrieben, sie haben nicht nur Angehörige, sondern auch die Beweise ihrer Existenz verloren. Selbst wer seinen Uniabschluss abfotografiert oder das Abiturzeugnis in einer Plastikfolie an den Körper geklebt hat, ist nach Wochen oder Monaten in der Türkei, auf dem Mittelmeer, in Griechenland und auf der Balkanroute womöglich ohne alles angekommen.
Heutzutage Dokumente aus Syrien zu beschaffen, ist jedoch schwierig bis unmöglich. Der syrische Staat unter Machthaber Baschar al-Assad funktioniert wie eine Mafia, es herrschen Willkür, Korruption und Not. Zwar lässt sich mit Bestechung manches Dokument herbeizaubern, doch die Mehrheit der Geflüchteten hat weder das Geld noch die Kontakte, um offizielle Papiere zu besorgen. Das bisherige Leben dieser Syrerinnen und Syrer zählt in Deutschland folglich nicht. Ihre Ausbildung und Berufserfahrung werden nicht anerkannt, sie müssen von vorne anfangen.
Vor allem der pädagogische Bereich und der Gesundheitssektor machen es syrischen Fachkräften unnötig schwer, obwohl gerade dort Personal fehlt. Die Anerkennung als Lehrerin oder Erzieher, als Pflegefachkraft, Hebamme, Physio- oder Ergotherapeut ist kompliziert und langwierig – und gelingt in der Regel nicht. Denn es handelt sich um geschützte Berufe, für deren Ausübung man eine staatliche Erlaubnis braucht.
Lehrer müssen einen Großteil des Studiums nachholen, außerdem ist das Unterrichten auf Deutsch eine echte Herausforderung. Einzelne schaffen es mit gezielter Unterstützung, aber viele entscheiden sich, als Erzieherin, Sozialarbeiter oder Sozialassistentin zu arbeiten. Auch hierfür müssen sie allerdings zunächst zurück auf die Schulbank und entweder Soziale Arbeit studieren oder eine Ausbildung machen. Das bedeutet zunächst mal keine Einkünfte – für einen syrischen Lehrer mit zehn Jahren Berufserfahrung und drei kleinen Kindern keine Option. Mancherorts scheitern hervorragend ausgebildete und engagierte Pädagoginnen auch daran, dass sie Kopftuch tragen – etwa in Berlin, wo mehr als 700 Sozialarbeiter gesucht werden, aber das Neutralitätsgesetz die staatliche Anstellung von Kopftuchträgerinnen an Schulen verhindert.
Um als Hebamme oder Pfleger eine Zulassung zu bekommen, verlangen Gesundheitsämter nicht nur fachliche Nachweise, sondern auch aktuelle Dokumente des Heimatstaates. Ein syrischer Physiotherapeut etwa legt sein Abschlusszeugnis, eine Fächer- und Stundenübersicht mit theoretischen und praktischen Prüfungsinhalten, einen Nachweis über seine Deutschkenntnisse und eine Geburtsurkunde vor. Bei der syrischen Botschaft in Berlin kauft er sich einen gültigen Pass – für mehrere Hundert Euro, die direkt in Assads Kriegskasse fließen. All das reicht jedoch nicht. Für eine Berufserlaubnis braucht er zusätzlich eine Straffreiheitsbescheinigung und ein Leumundszeugnis der entsprechenden syrischen Behörden, die nicht älter als drei Monate sein dürfen.
Zur Erinnerung: Syrien ist ein Geheimdienststaat, der seine Bürgerinnen überwacht, unterdrückt, verfolgt und foltert. Vertreter des syrischen Sicherheitsapparates werden in Deutschland wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt oder per internationalem Haftbefehl gesucht. Die Idee, polizeiliche Führungszeugnisse und Unbedenklichkeitsbescheinigungen eines Folterregimes zu Voraussetzungen für die Anerkennung eines Physiotherapeuten zu machen, erscheint absurd.
Oft verhindern Jobcenter mit kurzsichtigen Entscheidungen oder falscher Beratung eine erfolgreiche berufliche Karriere – wie im Falle des Elektroingenieurs Anas, dem zur Festanstellung nur der Führerschein fehlt, oder des Englischlehrers Manaf, der an eine Sicherheitsfirma vermittelt wurde. Vielen syrischen Hochschulabsolventen oder Studierenden wurden ab 2015 nur noch Sprachkurse bis zum Niveau B2 finanziert, danach sollten sie eine Ausbildung machen oder arbeiten gehen. Da man für die Universität einen C1-Sprachkurs nachweisen muss, fühlten sich diese Akademikerinnen herabgesetzt.
Ein Mathematiker in Berlin, der anonym bleiben möchte, wollte eigentlich seinen Master machen und anschließend in der freien Wirtschaft anheuern. Das Jobcenter verweigerte die Finanzierung des C1-Sprachkurses, der Mann gab seine akademischen Pläne auf, bezog einige Jahre Hartz IV und jobbte nebenher in verschiedenen Späti-Kiosken. Inzwischen fährt er Essen für ein Restaurant aus, denn um die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen, braucht er ein stabiles Einkommen. Sein Freund, ein studierter Chemiker, arbeitet seit Jahren in einer Bar.
Bei vielen Syrerinnen löst der Gang zum Jobcenter Ängste aus. Denn dort begegnen ihnen neben engagierten Mitarbeitern, die unter einer wachsenden Flut von Anträgen und Formularen zusammenbrechen, auch Ignoranz, Vorurteile und Rassismus. Ausländische, vor allem muslimische Kundinnen würden entmutigt, erniedrigt und schlecht behandelt, berichten deutsche Berufsberater und Psychologinnen, die seit Jahren Geflüchtete betreuen. Für das Ausfüllen von Anträgen, zum Verständnis von Behördenbriefen und für die perfekte Bewerbung, die in Deutschland Voraussetzung für jedes Vorstellungsgespräch ist, braucht man die Unterstützung von Muttersprachlern. Ohne eine enge Begleitung durch deutsche Freunde, Partnerinnen, Ehrenamtliche oder Integrationshelferinnen ist der Einstieg in Ausbildung und Beruf deshalb kaum zu schaffen.
Diese Hilfe ist in Deutschland aber Glückssache – sie hängt davon ab, wo ein geflüchteter Mensch ankommt, wen er in Deutschland bereits kennt und wem er zufällig begegnet. Ein strukturiertes Patenprogramm für neu ankommende Ausländerinnen und Ausländer wie etwa in Kanada gibt es nicht. Und die Beratung durch Arbeitsagenturen, Berufs- und Wohlfahrtsverbände ist meist oberflächlich und kann ein persönliches Coaching nicht ersetzen.
Viele Syrer arbeiten deshalb unter ihren Möglichkeiten. In manchen Bereichen sind die Ausbildungen in Syrien und Deutschland zu unterschiedlich und die dadurch erforderliche Neuorientierung – in Form eines Studiums, einer dualen oder schulischen Ausbildung – lohnt sich nicht.
Wer etwa als Rechtsanwalt oder Apothekerin in Aleppo zur Wohlstandselite zählte, kann mit Anfang 40 nicht noch einmal, noch dazu in einer Fremdsprache, Jura oder Pharmazie studieren. Ein syrischer Architekt kennt das deutsche Baurecht nicht, eine syrische Bankkauffrau ist mit anderen Finanzdienstleistungen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen konfrontiert als in ihrer Heimat, und wer in Syrien Autos repariert hat, kann in Deutschland nicht so einfach als Mechatroniker arbeiten. Hinzu kommen Bestimmungen zu Arbeitssicherheit, Brandschutz und Hygiene, die für jeden Zugezogenen neu sind.
Apotheker fahren deshalb Taxi, Rechtsanwälte eröffnen Imbisse oder Restaurants. Die Tatsache, dass man in jeder deutschen Kleinstadt inzwischen syrisch essen kann, hat nicht damit zu tun, dass unter den syrischen Geflüchteten besonders viele Gastronomen wären, sondern damit, dass man sich in der Gastronomie ohne Zeugnis und Abschluss selbständig machen kann.
Das zweite große Thema neben der Bürokratie ist die Sprache – ohne Deutsch klappt es nicht, und manch Geflüchteter ist damit überfordert. Zwar lernen viele Syrerinnen schnell und sprechen nach kurzer Zeit beeindruckend gut Deutsch. Aber anderen fällt es schwer. Familienväter stehen oft unter großem Stress – sie müssen ihren Aufenthalt sichern, Frau und Kinder nachholen, eine Wohnung finden und sich um zurückgebliebene Verwandte kümmern. Dadurch fehlt ihnen die notwendige Energie und Konzentration zum Deutschlernen. Wer studiert hat, tut sich leichter, aber nicht jeder Jurist oder Arzt ist sprachbegabt. Außerdem ist der Krieg in der Heimat nicht vorbei, eigene traumatische Erlebnisse und die Sorge um Angehörige in Syrien wirken lähmend und erschweren einen Neuanfang.
Wer mit Mitte 40 kommt, acht Jahre zur Schule gegangen ist und sein Geld als Handwerker oder Krämerladenbesitzer verdient hat, wird womöglich nie so gut Deutsch sprechen, dass er arbeiten kann. Einem deutschen Maler oder einer Versicherungskauffrau würde es beim Arabischlernen in Damaskus nicht anders ergehen.
Außerdem lohnt sich die Arbeit für diese Menschen kaum. Ihre Berufserfahrung wird wegen fehlender Abschlüsse nicht anerkannt, sie müssten deshalb eine deutsche Ausbildung machen und dabei mit 15- bis 18-Jährigen in der Berufsschule sitzen. Manche Kammern bieten alternativ eine sogenannte Externenprüfung an, bei der man statt einer Ausbildung die eineinhalbfache Zeit an Berufserfahrung nachweisen und eine Prüfung absolvieren muss. Doch auch diese ist sprachlich für viele nicht zu schaffen. So scheitern erfahrene Berufspraktiker an der deutschen Theorie und landen dauerhaft im Sozialsystem.
Dieses wirkt nicht wie ein Sprungbrett, das zu Weiterbildung und Neuorientierung einlädt, sondern wie eine Hängematte, die zu verlassen mühsam ist, sich nicht lohnt und im Niedriglohnbereich kaum zu schaffen ist. Eine Familie mit vier Kindern bekommt monatlich je nach Wohnort etwa 2200 Euro Sozialleistungen inklusive Miete. Wenn die Mutter sich um die Kinder kümmert, müsste der Vater diese Summe netto verdienen, um auf eigenen Beinen zu stehen – ein Bruttogehalt von mehr als 3000 Euro ist jedoch in vielen Fällen unrealistisch. Da lohnt es sich eher, auf dem Bau oder in der Gastronomie schwarz dazuzuverdienen – Geld, das nicht umständlich angemeldet werden muss und bis auf einen geringen Freibetrag abgezogen wird.
Aber was ist mit den vielen jungen Männern? Warum machen nicht mehr von ihnen eine Ausbildung? Gefühlt jeder zweite junge Syrer jobbt bei Amazon, in einer Zeitarbeitsfirma, in einem Imbiss, als Lieferant oder Wachmann. Das hat vor allem finanzielle Gründe. Wer als Syrer mit Anfang oder Mitte 20 nach Deutschland kam, musste schnell Geld verdienen, um zurückgebliebene Angehörige zu unterstützen und die Schulden der Flucht zu bezahlen. Für eine Ausbildung hatten diese jungen Männer oft weder Zeit noch Geld, denn im Gegensatz zu deutschen Azubis haben sie keine Eltern, bei denen sie wohnen können oder die sie unterstützen, und keinen Anspruch auf Kindergeld, wenn sie unter 25 sind.
Schulische Ausbildungen werden überhaupt nicht vergütet, und wer an einer privaten Berufsfachschule lernt, muss sogar Geld bezahlen. Im dualen Ausbildungssystem bekommen angehende Frisörinnen, Bäcker, Köche, Augenoptiker, Hotelfachfrauen und medizinische Fachangestellte nur 550 bis 990 Euro Ausbildungsvergütung pro Monat. Berufsausbildungsförderung und BAföG hängen vom jeweiligen Aufenthaltsstatus ab, manchen Geflüchteten bleibt auch während einer Ausbildung nur Hartz IV oder die noch niedrigere Grundsicherung als Asylbewerber.
Wer sich nicht als Bittsteller fühlen möchte, sucht sich deshalb lieber einen Job in einer Sicherheitsfirma, in der Gastronomie oder bei einem Paketdienstleister, mit dem er 2000 bis 3000 Euro monatlich verdient. Aus Sicht von Berufsberatern sitzen sie damit in einer „Arbeitsmarkt-Falle“, aus der sie kaum wieder herauskommen. Denn sie erreichen mit ihren gut bezahlten Jobs als „Ungelernte“ einen höheren sozialen Status, als wenn sie ihre Fähigkeiten dazu nutzten, einer qualifizierten Arbeit nachzugehen. Deutschland lässt dadurch viel Humankapital ungenutzt.
Die Nachwuchsprobleme in bestimmten Berufen mit Hilfe von Migranten lösen zu wollen, ist jedoch der falsche Weg. Warum sollten Syrerinnen die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Pflege, die schlechte Bezahlung als Erzieher oder die unattraktive Ausbildung in manchen Handwerksberufen akzeptieren? Warum sollten sie das machen wollen, wozu Deutsche nicht bereit sind? Wie jeder Mensch haben auch Geflüchtete das Recht, ihren Neigungen und Wünschen zu folgen – sie wollen lieber Informatiker, Ärztin oder DJ werden als Pfleger oder Bäckerin. Syrerinnen und Syrer haben längst mitbekommen, welche Berufe in Deutschland Ansehen genießen und Geld bringen und dass Fliesenleger und Kraftfahrer nicht dazugehören. Hinzu kommt, dass die meisten von ihnen finanzielle Verantwortung für ihre in Elendslagern lebenden Verwandten tragen, sie nichts erben werden und in kürzerer Zeit einen ausreichenden Rentenanspruch erwirtschaften müssen. Sie fangen bei null an und müssen für sich und ihre Kinder eine Existenz aufbauen – gerade deshalb sollten sie sich nicht ausbeuten lassen.
Wer mehr Fachkräfte in sogenannte Mangelberufe locken möchte, muss diese für alle attraktiver machen und gleichzeitig den Zugang für Migrantinnen erleichtern. Warum lässt man Geflüchtete, die zwar keinen Schulabschluss, dafür aber Erfahrung, Eignung und den Willen mitbringen, nicht probeweise eine Ausbildung oder Arbeit beginnen? Warum verzichtet man im Falle von Diktaturen und Kriegsschauplätzen nicht auf die ohnehin wertlosen Sicherheitsdokumente? Warum bieten die Kammern nicht verkürzte Ausbildungen oder Anpassungsqualifizierungen für ausländische Fachkräfte an, damit syrische Lackierer, Elektroingenieurinnen und Bankkaufleute nach einem Jahr in ihrem Bereich arbeiten können? Wieso gibt es an Berufsschulen nicht mehr spezifische Sprachförderung für ausländische Auszubildende, damit der erfahrene syrische Physiotherapeut nach drei mühevollen Jahren nicht an der Theorieprüfung scheitert? Warum wird der Übergang von Hartz IV in die Vollzeitarbeit nicht mit höheren Freibeträgen oder weiteren Mietzuschüssen gefördert? Und warum werden Frauen mit Kopftuch im Deutschland des Jahres 2022 noch immer diskriminiert? Weil Lehrerinnen in Berlin „neutral“ aussehen sollen? Und sich die Gäste an der Rezeption eines Hotels im Rheinland „gestört“ fühlen könnten?
Als Einwanderungsland versagt Deutschland jeden Tag hunderttausendfach. Statt überkommene bürokratische und unnötige föderale Strukturen aufzubrechen und nach schnellen kreativen Lösungen zu suchen, klammern sich deutsche Behörden und ihre Mitarbeiter an Vorschriften und Paragraphen.
Dass manches auch anders geht, zeigt der Umgang mit den ankommenden Ukrainerinnen. Diese müssen keine Asylanträge stellen, weil sie durch die EU-Massenzustrom-Richtlinie sofort ein Aufenthaltsrecht von bis zu drei Jahren bekommen. Dadurch müssen sie nicht wie alle anderen monate- oder jahrelang in teils überfüllten und entlegenen Wohnheimen ausharren und auf Integrations- und Sprachkurse warten. Sie können von Anfang an arbeiten und dürfen wohnen, wo sie wollen. Ukrainische Schüler, die dieses Jahr keinen Sekundarschulabschluss machen konnten, dürfen sogar ohne Nachweis der Hochschulreife studieren. Von solchen Bedingungen können Syrerinnen seit Jahren nur träumen. Angeblich seien die neuen Bestimmungen das Ergebnis eines Lernprozesses, behaupten Politiker gerne. Doch so lange diese nur für Menschen aus der Ukraine gelten, zementieren sie im Umgang mit Geflüchteten ein Zwei-Klassen-System und sind ein Beleg für Deutschlands strukturellen Rassismus, der im krassen Widerspruch zu den Werten des Grundgesetzes steht.