Postskriptum
Postskriptum
Maryanne Wolfs ursprüngliche Erkenntnis war, dass das menschliche Gehirn keinerlei Gen, keine Hirnregion, keine Einrichtung, kein Programm für das Lesen habe. Sprache, Sehvermögen, Kognition, Emotion – alles Teil des Lesens – sei vorhanden, aber die Spezies sei nie dafür auserkoren gewesen, lesen zu können. Allerdings sei wundersamerweise der Geist in der Lage, neue Schaltvorgänge in sich selbst einzurichten.
Ein ebensolches Set an Schaltvorgängen sei das sich entwickelnde Schriftverständnis gewesen, die Verbindung von vorhandenen Fähigkeiten in einem zuvor nicht vorhandenen Zusammenhang. Eingesetzt habe dieser Prozess vor schlappen 6000 Jahren – und eine bis heute erstaunliche Karriere hingelegt. In unzähligen Entwicklungsstufen sei aus dem bloßen Verarbeiten von Informationen die Fähigkeit entstanden, tatsächlich eine fremde Perspektive einzunehmen, in die Gefühlswelt anderer Menschen einzutauchen.
Aber keine Sorge, bevor der Lobgesang auf die Lernfähigkeit der Menschheit als zu selbstgefällig zu verhallen droht, kriegt Wolf, die an der University of California in Los Angeles lehrt, doch noch die kulturkritische Kurve. Denn als Ergebnis ihrer Forschung, zu der wohl kaum eine Zeitgenossin nicht eine bestätigende Beobachtung beisteuern könnte, droht ein gehöriger Teil der Menschheit in Vorformen des Lesens, freundlich gesprochen, oberflächlicher Art, zurückzufallen, in denen kaum etwas im Gedächtnis haften bleibt: „Wir lesen dann im Ergebnis weniger als das, was dort ist.“ Wolf, Autorin des Buches „Reader, Come Home. The Reading Brain in a Digital World“, verfolgt keine politische Schlagrichtung im herkömmlichen Sinne, rät nicht zu „korrekten“ Büchern oder warnt vor üblen Machwerken. Auch verwerfliches Gedankengut gilt es erst einmal intellektuell zu durchdringen.
Keine Sorge, Teil 2: Wolf ist weit davon entfernt, alles Digitale zu verdammen, fordert nicht dazu auf, unsere Telefone wie Teufelszeug aus dem Fenster zu werfen – oder ist so realpolitisch klug, zu wissen, dass es dafür zu spät ist.
Gleichwohl, der gute wie schlechte maßlose Angebotscharakter beim Lesen am Bildschirm, die Möglichkeit, sehr viel wenigstens grob wahrzunehmen, zu scannen, wie man im Deutschen sagt, sabotiere eben doch die Entfaltung der umfassenden geistigen Kapazitäten bei der Lektüre. Im gelungenen Fall verquickten sich dabei die Fähigkeiten, sich etwas zu vergegenwärtigen, abzuwägen, sich einzudenken. Gelinge Abstraktion, entstünde Mitgefühl, erhöhe sich die Qualität der Aufmerksamkeit.
Sie können selbstverständlich vorher noch 148 Mails checken, auch wenn das dann doch ein Grund für mitfühlende Sorge wäre.