Weiche Faktoren, ganz hart

Manche in der FDP tun so, als ob Covid-19 überwunden sei. Und legen die Grundlage für einen neuen Corona-Herbst

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PICTURE ALLIANCE/DPA | KAY NIETFELD
Im Dienst für deutsche Sicherheit, im umfänglichen Sinne des Begriffs: Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Ausnahmeerscheinung in der FDP
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PICTURE ALLIANCE/DPA | KAY NIETFELD
Im Dienst für deutsche Sicherheit, im umfänglichen Sinne des Begriffs: Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Ausnahmeerscheinung in der FDP

Weiche Faktoren, ganz hart

Manche in der FDP tun so, als ob Covid-19 überwunden sei. Und legen die Grundlage für einen neuen Corona-Herbst

Wir sind es nach zwei Pandemiejahren gewohnt: Eigentlich sollte man nur noch auf die Entwicklung der Infektionskurve schauen, dann kann man in der Regel ganz gut darauf schließen, wann schützende Corona-Maßnahmen gelockert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Politik in Deutschland Corona-Maßnahmen zurücknimmt, steigt parallel zu steigenden Inzidenzen, wenn die Kurve nach oben knickt – also zielsicher immer dann, wenn bereits exponentielles Wachstum eingetreten ist.

So wie jetzt wieder. Das war schon immer so in der Pandemie. Getrieben von der FDP bietet jetzt auch die regierende Ampelkoalition dieses Schauspiel: Hurra, wir lockern, ist doch egal, dass so viele krank werden. Sie ahnen es schon: Die Sieben-Tages-Inzidenz ist derzeit so hoch wie nie seit Beginn der Corona-Pandemie. Die Hospitalisierungs­kurve zieht an. Eine Impfpflicht könnte Abhilfe schaffen. Doch diese Woche sagte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, er glaube nicht mehr, dass die auch von ihm geforderte allgemeine Impfpflicht politisch noch durchsetzbar sei. Der Regierungschef aus dem Bundesland, das einmal liberales Stammland war, bevor die bürgerlichen Südwestgrünen begannen, liberal-ökologische Politik in Stuttgart, Freiburg oder Tübingen zu machen, nennt den Grund nicht, aber allen ist klar, worum es geht: Mit dieser FDP ist die Impfpflicht nicht zu machen. In der liberalen Partei setzen sich offenbar die Rechten gegen die Verantwortungs­liberalen durch. Vorneweg der Vizepräsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Kubicki. Liberal ist demnach neoliberal, der Stärkere siegt. Liberal ist demnach offenbar nicht die Freiheit, die darauf aus ist, den Normalzustand wiederherzustellen – indem die Seuche, so weit es irgend geht, ausgerottet wird.

Dabei sah es anfangs nicht so schlecht aus: Gemeinsam mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP hatten Abgeordnete von SPD und Grünen am 11. Februar ihren Gesetzesentwurf „zur Aufklärung, Beratung und Impfung aller Volljährigen gegen SARS-CoV-2“ in den Bundestag eingebracht. Ihre Mitteilung an die Medien überschrieben sie mit dem schönen Titel „Freiheit und Solidarität – die allgemeine Impfpflicht für Erwachsene als Weg aus der Pandemie“. Gleich der Anfang des Papiers verströmt Selbstbewusstsein: „In den zwei Jahren Pandemie wurden der Politik immer wieder Vorwürfe gemacht: Es wird nicht agiert, sondern nur reagiert“, schreiben da die Abgeordneten. „Jetzt machen wir das anders“, brüllt der Papiertiger aus dem Parlament. Dann landet er als Bettvorleger vor jenen Abgeordneten, die in der FDP ihren Ich-bezogenen Begriff von Freiheit der Mehrheitsgesellschaft überstülpen möchten.

Das ist fatal. Denn Deutschland hat ein Problem, das andere in Westeuropa zum Glück nicht mehr haben: Die viel zu große Impflücke bei den über 60-Jährigen. Das geht aus den Daten der EU-Gesundheits­behörde ECDC hervor. Demnach waren bis Mitte Februar 89,6 Prozent in jener Kohorte in Deutschland vollständig geimpft (ohne Booster-Impfung), in Spanien in dieser Altersgruppe mehr als 98 und in Portugal sogar 100 Prozent. Auf der iberischen Halbinsel wurden die Menschen mit guter Kommunikation zum Impfen gebracht. Die Gesundheitsbehörden haben sie direkt angeschrieben und zu einem Impftermin eingeladen.

Das gibt es bis heute in Deutschland nicht. In Deutschland steigen die Impfzuwächse bei der Grundimpfung nur langsam: Das Robert-Koch-Institut (RKI) registrierte Mitte Januar bis Mitte Februar ein Plus von 2,3 Prozentpunkten. Ohne flächendeckende Immunisierung wird es aber immer wieder zu schlimmen Corona-Ausbrüchen kommen in der kalten Jahreszeit, wenn sich das Virus in Innenräumen leicht verbreitet. Eine große Impflücke macht es dem Virus zudem leicht, sich weiterzuentwickeln: Es testet seine Fitness zwischen Geimpften und Ungeimpften. Nach den RKI-Zahlen zu schließen, lassen sich offenbar immer weniger Nichtgeimpfte noch überzeugen, sich mit einer Spritze immunisieren zu lassen.

Nach der Ankündigung der für die allgemeine Impfpflicht einstehenden Ampel-Abgeordneten sollen die Krankenkassen künftig „alle erwachsenen Menschen in Deutschland einfach und verständlich informieren“. Es solle eine „Beratungs- und Kommunikationsoffensive“ gestartet werden, steht da. Auf dem Papier. Anfang der Woche haben nun Pandemie-Fachleute in „Expertensitzungen“ die Abgeordneten bearbeitet. „Unverzichtbar“ sei die allgemeine Impfpflicht, sagen die Vertreterinnen und Vertreter der Krankenhäuser und viele andere mehr. Kubicki gibt sich nicht überzeugt und verweist auf die milderen Krankheitsverläufe der Omikron-Variante. Das Argument dahinter lautet offenbar, es müssten sich nur alle tüchtig durchseuchen lassen, dann passt das schon mit dem Ende der Pandemie.

Doch Covid-19 und das Virus SARS-CoV-2 werden nicht mehr weggehen. So wenig wie HIV, die Masern und die Pocken. Alle drei Viren sind aber nur beherrschbar, weil alle Mittel genutzt werden, um sie in Schach zu halten und – darauf kommt es an – die Menschen zu schützen, die am verletzlichsten sind. Also zum Beispiel Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können. Diese Menschen sind in ihrem Alltag beschränkt, sie sind unfrei, wenn die Mehrheitsgesellschaft sie nicht schützt.

Mittlerweile gibt es einen vollumfänglichen Krieg in Europa. Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach Beginn von Putins Angriff auf die Ukraine eine Zeitenwende beschrieben und in nur einer Rede die deutsche Sicherheitspolitik der vergangenen drei Jahrzehnte radikal neu justiert. Ein langer Konflikt mit Russland scheint absehbar. Da lohnt ein Blick zurück in die 1970er-Jahre, als die FDP zuletzt in seliger sozialliberaler Eintracht mit der SPD die westdeutsche Bundesrepublik regierte. Ein Pfeiler der westdeutschen Politik im Kalten Krieg war der Gesundheitsschutz der Bevölkerung und damit auch der Truppe: als selbstverständlicher, weicher Faktor der Landesverteidigung. Bleibt zu hoffen, dass Strack-Zimmermann, die FDP-Abgeordnete, die den Gesetzesentwurf zur allgemeinen Impfpflicht mit eingebracht hat, die neoliberale Betonfraktion in ihrer Partei noch überzeugen kann: Sie leitet den Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages.

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